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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 11.11.1999, Seite 1

Der Krieg hinter dem Krieg

Moskau hat von der NATO rasch gelernt. Will man die Weltöffentlichkeit in die Irre leiten, so führt man den Krieg nicht um "angestammte Herrschaftsgebiete", sondern gegen den "internationalen Terrorismus". Will man die eigene militärische Überlegenheit ausspielen, schießt man besser mit Bomben als mit Handgranaten und Schnellfeuergewehren. Doch der Krieg, den Russland gegen Tschetschenien führt, hat eher mit innerrussischen Machtkämpfen als mit der Abwehr "islamischer Terroristen" zu tun.
Die terroristischen Anschläge in Moskau, die hunderte von Toten kosteten, erschütterten die russische Gesellschaft. Sie wurden sofort politisch instrumentalisiert. Die Regierungsbehörden beschuldigten Tschetschenien; die Massenmedien setzten eine bislang ungekannte Welle rassistischen Hasses in Gang. Zu den prominentesten Wortführern machten sich liberale Kommentatoren wie Michail Leontjew, der vorschlug, mit Giftgas, Napalm und Teppichbomben gegen die Verfechter der tschetschenischen Unabhängigkeit vorzugehen.
Die wahren Ursachen mochten die Behörden nicht so recht erkunden. Auf das Angebot der tschetschenischen Regierung, auf der Suche nach den Tätern jede Hilfe zu leisten und Schuldige auszuliefern, ging Moskau nicht ein. Vertreter des Kampfes für die Unabhängigkeit Tschetscheniens bestritten, etwas mit den Bombenattentaten zu tun zu haben und stellten die Frage: "Wie soll es möglich sein, rund eine Tonne explosiven Materials in eine so geschlossene und bewachte Burg wie Moskau einzuschleusen?" Ihre Vermutung ist eine andere: "Es sind Moskaus Politiker selbst, die Moskau in die Luft sprengen."
Dem Bürgermeister von Moskau nahestehende Gazetten stellten ähnliche Fragen. Die Moskowski Komsomolets ging den Kreml und Beresowski direkt an: Selbst wenn Tschetschenen die Bomben gelegt hätten, sei dies von Kreisen um den Präsidenten angeordnet worden. Dieselben Kreise hätten ihre Freunde in Tschetschenien angestachelt, über Dagestan herzufallen.
Russland erlebte einen Medienkrieg wie seit 1993 nicht mehr. Das bedeutet nichts anderes, als dass die dahinterstehenden Eliten sich nunmehr bis aufs Messer bekämpfen. Tatsächlich ist die russische Elite tief gespalten. Auf der einen Seite findet man die sog. Familie, in deren Mittelpunkt die Präsidententochter Tatjana Djatschenko steht: um sie herum lagern sich der Palast, der Bankier Beresowski, der Ölmagnat Roman Abramowitsch u.a. Auf der anderen Seite findet man die Führer örtlicher Eliten - auch entfernterer Regionen -, die sich um den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow scharen.
Der Kampf zwischen diesen beiden Lagern hat letzten Ende mit dem kleinen wirtschaftlichen Boom zu tun, der auf die Finanzkrise vom August 1998 folgte. Damals wurde der Rubel massiv abgewertet, russische Güter damit auf dem einheimischen wie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger. Nun zeigte sich aber, dass die Wirtschaftsstruktur, die in den letzten acht Jahren unter Jelzins Regime aufgebaut wurde, den neuen Anforderungen nicht gewachsen ist. Die steigende Industrieproduktion führte als erstes zu Energieknappheit, weil die "unwirtschaftliche" Kohleproduktion systematisch heruntergefahren worden ist. Die Rohstoffproduzenten haben sich mehr und mehr auf den Export orientiert, so dass die einheimische Industrie nun unter akuter Ressourcenknappheit leidet In diesem Sommer brach eine Ölkrise aus, später fehlte Strom.
Ein noch größeres Problem ist der chronische Mangel an Investitionen. Industrieproduktion fordert Kapital, und das ist nicht verfügbar. Die Schicht von Oligarchen, die unter Jelzin groß geworden ist, war in der Vergangenheit unfähig, strategische Investitionen zu tätigen, und nach der Finanzkrise fehlen ihr dazu das Geld und die Kreditwürdigkeit. Auch die Regierung hat kein Geld, das hat sie den Oligarchen geschenkt.
Um Rohstoffe und die Finanzmittel ist deshalb in Moskau ein Machtkampf zwischen rivalisierenden Wirtschaftsgruppen im Gang, und es hat den Anschein, dass dieser Krieg nicht anders entschieden werden kann, als dass der Stärkere den Schwächeren frisst. Dagestan und Tschetschenien sind Schauplätze dieses Krieges.
Wer Dagestan kontrolliert, beherrscht den Öltransport nach Westen. Nach dem ersten Unabhängigkeitskrieg hatte die Regierung Tschetscheniens die Ölpipeline durch Aserbaidschan nach Norden geschlossen. Mit dem Beginn des Krieges gegen Dagestan wurde auch die zweite, durch Dagestan führende, Pipeline geschlossen. Infolgedessen stieg der Preis für sibirisches Öl - zum Nutzen der russischen Magnaten Beresowski, Potanin und anderer.
Der zweite russisch-tschetschenische Krieg hat einen anderen Charakter als der erste. 1994-96 ging es um die Abwehr der russischen Invasion. In Dagestan marschierten im vergangenen September jedoch tschetschenische Soldaten ein und überfielen das Land. Diese Truppen gehorchten niemandem außer ihren Kommandeuren und deren Sponsoren, die die Militäroperation finanzierten. Die tschetschenische Invasion in Dagestan traf auf den massiven Widerstand der Bevölkerung und ist letzten Endes gescheitert.
Trotz der faktischen Unabhängigkeit, die nach dem ersten Krieg errungen wurde, ist das Projekt der Schaffung eines tschetschenischen Nationalstaats gescheitert. Die Republik ist gespalten in eine von moderaten islamischen Kräften kontrollierten Zone und eine, die von radikalen Fundamentalisten beherrscht wird. Die tschetschenische Elite hat nach dem Krieg informelle Beziehungen zu den Kreisen um den Kreml aufgenommen und ist zunehmend korrupt geworden. Sie verteidigt eigene Ölinteressen und ist selber ein Baustein im Ränkespiel der Macht.
Auf den Straßen Moskaus werden unterdessen antikaukasische Pogrome gefordert, manche orakeln die Verhängung des Ausnahmezustands. Militär und Polizei patroullieren durch die Stadt.
Liberale Kommentatoren stellen die Frage: Welche Sorte Diktatur braucht Russland? Die Ära Jelzin naht ihrem Ende.
Boris Kagarlitzki/Red.
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