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"Zehn Jahre 89 - Wende wohin?" nennt sich eine Veranstaltungsreihe, die derzeit in Berlin von der Ost-West-Arbeitsgruppe
beim Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung durchgeführt wird. Sie versucht, der offiziellen Deutungsmacht des Umbruchs 1989
eine eigene Interpretation entgegenzusetzen, Erfahrungen der Selbstorganisation damals mit heutigen Auseinandersetzungen zu verbinden. Zu
diesem Zweck werden - historisch einmalig - am 27.November in Berlin diejenigen Aktiven aus Betrieben und Einrichtungen der DDR
zusammenkommen, die in der Zeit der "Wende" versucht haben, ihre Interessen als Beschäftigte zu artikulieren und sich zu
organisieren. STEFANIE HÜRTGEN skizziert Hintergrund und Aktualität der Veranstaltung.
Als sich im November 1989 die Ereignisse in der DDR überschlugen
und kein Tag verging, an dem nicht demonstriert wurde oder eine neue Rücktrittserklärung irgendeines Vorsitzenden in den
Nachrichten zu hören war, schien in den Betrieben und Institutionen alles "seinen sozialistischen Gang" zu gehen.
Doch dieses Bild spiegelt nur die "halbe Wahrheit" wider:
Für zahlreiche Belegschaften der DDR-Betriebe waren die Wochen und Monate zwischen dem Oktober 1989 und dem Frühjahr
1990 ereignisreicher und aufregender, als es die Geschichtsschreibung inzwischen vermuten lässt. In das entstandene Vakuum einer
fehlenden Interessenvertretung - der FDGB war in eine "Schreckstarre" gefallen, der DGB stand noch nicht auf der
"Matte" - stellten Gruppen oder einzelne Kollegen weitreichende Forderungen und initiierten die Gründung
unterschiedlichster Vertretungsorgane. Es gab 1989 den "kurzen Herbst der Anarchie" (Volker Braun) nicht nur auf den
Straßen, sondern auch in den Betrieben.
Die Motive, die die Arbeiter und Angestellten dazu bewogen, sich aktiv in
das Betriebsgeschehen einzumischen, war zum einen das Gefühl, dass sich in den Betrieben nichts rührte, alles beim alten und die
Leitung auf ihrem Posten blieb; zum anderen wurde man immer noch ohne Informationen und ohne "Durchblick" gehalten und hatte
nichts zu sagen.
"Die Wende in die Betriebe holen", war die Devise, und das
hieß: Staat und Partei raus aus dem Betrieb, Kampfgruppen raus, Stasi raus, Absetzung der unfähigen Leitungen, Zerschlagung der
alten Strukturen sowie Offenlegung der Informationen über betriebliche Vorgänge, um sich endlich einbringen zu können und
mitzureden.
Das Problem der fehlenden Transparenz von Entscheidungen und das
weiterhin bestehende Informationsdefizit der Beschäftigten bekam zusätzliche Brisanz, als im November und Dezember 1989
zahlreiche Betriebsleiter anfingen, ihre Umstrukturierungspläne mit ersten "Kontaktaufnahmen" zu Westfirmen zu verbinden.
Ein kleinerer Teil der aktiven Kollegen wollte auch, angesichts der sehr späten und äußerst zögerlichen
Reformbereitschaft des FDGB, Gewerkschaften aufbauen, die von allen Parteien und Massenorganisationen unabhängig sein sollten.
Die Erwartungen dieser Monate mündeten in Forderungen nach
Lohnerhöhung, besseren Arbeitsbedingungen, höheren Renten, Angleichung der Löhne der Angestellten u.a. In den Werken
wurden Aufruf mit der Forderung an den Betriebsleiter verteilt, sich der Vertrauensfrage zu stellen.
Will man die Bedeutung eines solchen Vorgangs für die Verfasser
ermessen, muss man sich vergegenwärtigen, dass es für Arbeiter in der DDR 50 Jahre lang so gut wie keinen öffentlichen
Protest gegeben hatte. 1989 lebte eine Arbeitergeneration, deren gemeinsame Erfahrung in maulender Anpassung, Verweigerung oder Flucht
bzw. Ausreise in den Westen bestand; erst im Oktober 1989 begann sie, durchaus noch risikoreich, sich wieder Praktiken einer kollektiven
Auseinandersetzung anzueignen.
1989: Aufbruch in den Betrieben
Noch wenig beeinflusst von dem "nebenan" praktizierten
westdeutschen Vertretungsmodell, experimentierte man in diesen Wochen der "Zwischenzeit" mit Formen und Inhalten einer
künftigen Interessenvertretung und entwickelte eine ganz eigene Mischung aus erinnerter früherer Praxis und spontanen
Vorstellungen, die aus dem aktuellen Bedarf entstanden. In einem Auszug aus einem Flugblatt vom 20.12.89 der "Initiativgruppe
Unahbängige Industrie-Gewerkschaft im VEB Werk für Fernsehelektronik Berlin (WFB)" heißt es:
"Der FDGB hat bislang die Interessen von Staat und Partei gegen die
Arbeiter vertreten. Das Machtmonopol der SED zerbricht. Sollte der FDGB sich nicht radikal wandeln, wollen wir eine Alternative werden.
Deshalb organisieren wir uns und jeder Werktätige - unabhängig von seiner FDGB-Mitgliedschaft - kann seine Interessen
einbringen. Wir sehen unsere Hauptaufgabe in der Durchsetzung der Interessen der Werktätigen, und nur dieser, bezüglich der
Arbeitsbedingungen, u.a.: Arbeits- und Gesundheitsschutz (Abbau körperlich schwerer und gesundheitsgefährdender Arbeit,
Anerkennung von Berufskrankheiten); Umweltschutz (Einhaltung entsprechender Gesetze); Tarifbedingungen (steigende Löhne und
Gehälter bei steigendem Gewinn, höhere Renten, Weihnachtsgeld, leistungsorientierte Prämien, geringere Wochenarbeitszeit
bei gleichem Lohn und gleicher Leistung, geringere und der Lebenserwartung angepasste Lebensarbeitszeit, Urlaubszeit, gerechter Grundurlaub
und arbeitsbedingter Zusatzurlaub, Haushaltstag für alle Werktätigen ab dem 40.Lebensjahr); soziale Versorgung (vitaminreiche
und abwechslungsreiche Versorgung); Mitbestimmung bei innerbetrieblichen Arbeitskräftelenkungen; Kontrolle der Betriebsergebnisse
und Mitbestimmung bei Maßnahmen der Betriebsleitung; Durchsetzung von Konsequenzen bei wiederholten ökonomischen
Fehlentscheidungen der Betriebsleitung; Rechtsvertretung der Werktätigen in arbeitsrechtlichen Fragen.
Voraussetzungen dafür sind: Unabhängigkeit von allen Parteien
und Massenorganisationen; Mitglieder in der Leitung der IUG dürfen keine Mitglieder der SED sein (kurzfristig) bzw. dürfen in
keiner leitenden Funktion einer Partei oder politischen Organisation tätig sein. Leitungskader des Betriebs dürfen keine IUG-
Leitungsfunktionen übernehmen. Unabhängigkeit von der Betriebsleitung, allgemeine Rechenschaftslegung, Offenlegung aller
Finanzierungen und basisdemokratischer Aufbau und Entscheidungsfindung in der IUG."
In einem Auszug aus einem Flugblatt des gleichen Betriebs vom 7.2.1990
ist zu lesen:
"Die uns alle bewegende Frage, wie es wirtschaftlich in unserem
Land weitergeht, scheint niemand von der entsprechenden staatlichen bzw. betrieblichen Leitung beantworten zu können. (Oder wollen
sie nicht?) Einige Beispiele dazu aus dem VEB WF Berlin: Es fanden Verhandlungen zwischen der Betriebsleitung des VEB WFB und Siemens
über die Bedingungen des Ausverkaufs statt. Belegschaftsvollversammlung des Werkteils Pankow am 6.1.90: nur Geschwafel, kein
konkretes Konzept, weder ökonomische noch F/E-Strategie [Forschung und Entwicklung], aber der Plan ist erfüllt.
Bereichsvollversammlung im WF-Kulturhaus am 24.1.90: In selbstgefälliger, überheblicher, verantwortungsloser Weise stellte Dr.
Lehmann (wie bereits vor der ‚Wende) dar, dass er kein Konzept hat. Einziger eindringlich genannter Termin ist der Wahltag, wer bis
jetzt nicht durch ‚fleißige Arbeit auf sich aufmerksam gemacht hat, solle es vorziehen, zu Hause zu bleiben. Er kenne nur zehn (von
350) Werktätige, die am Arbeitsplatz ‚durch Arbeit auffallen, wer auch jetzt nicht fleißig arbeite, werde künftig nicht
mehr gebraucht.
Auf vielfältige Anfragen bezüglich Verantwortungslosigkeit,
Arbeitsleistung und Unvermögen staatlicher und betrieblicher Leiter teilte Dr.Lehmann mit, dass diese weiterhin in ihren Funktionen
verbleiben würden. Eventuelle Vorbehalte gegen seine Person wären mit den entsprechenden Rechtsmitteln zu klären.
VVV im WF-Kulturhaus am 25.1.1990: Bericht des Betriebsdirektors
ergab: Es liegt kein Konzept vor. Aber im Februar wird womöglich der neue Betriebsdirektor eines haben. Der ökonomische
Direktor wies darauf hin, dass es eine schwere Aufgabe sei, keine Arbeitskräfte zu entlassen, aber diese Aufgabe sei lösbar.
Fazit: Ökonomische Konzepte fehlen - warten auf Konzerne aus dem
Goldenen Westen. Während Betriebe in der DDR geschlossen werden, bittet die WF-Leitung um Sorglosigkeit, verschleiert die Situation
und stellt Arbeitslosigkeit als Ausnahme anderer Betriebe dar. Verantwortungslose Leiter behalten ihren Posten. Und die ‚kleinen
Leute? Die werden wohl gehen müssen?!"
Schaut man sich die Aufrufe, offenen Briefe oder Strukturvorschläge
für eine eigene Interessenvertretung von 1989 an, so fallen - unabhängig von den jeweiligen Verfassern - zwei
Eigentümlichkeiten auf.
Erstens: Die Forderungen sind mehrheitlich aus der Position eines
basisdemokratischen Verständnisses von Beteiligung formuliert. Gegen den zentralistischen Aufbau des FDGB wollte man eine Struktur
von unten nach oben schaffen, und zwar durch eigene Aktion, nicht in Erwartung einer Maßnahme von oben. "Selbstbestimmte
Gewerkschaftsarbeit heißt für uns zunächst, einen mühsamen, keinesfalls misserfolgsfreien und risikoreichen
Lernprozess in Gang zu setzen, der aber nur ganz unten, bei jedem einzelnen beginnen kann", heißt es in einem Aufruf von Berliner
Krankenschwestern. Jederzeitige Abwählbarkeit von gewählten Interessenvertretern war seinerzeit ebenso wenig umstritten wie
die weitestgehend ehrenamtliche Arbeit in den gedachten Vertretungen.
Zweitens: Die Forderungen der Aufbruchphase enthielten Ansprüche
an eine Mitbestimmung der Belegschaft, die teilweise weit über das Maß nicht nur der bundesdeutschen Regelungen hinausgingen.
Im Anschluss an das standardmäßig geforderte Recht auf Informationen und Offenlegung aller Betriebsunterlagen finden sich
häufig Forderungen nach einem Vetorecht für die Interessenvertretung der Belegschaften, nach weitgehenden Mitspracherechten
(bei Investitionsvorhaben, Personalfragen, Sozialfragen und betrieblichen Umgestaltungen) bzw. Forderungen nach Wahl der Betriebsleitungen.
In einem Positionspapier der Betriebsgruppe des Neuen Forums heißt es: "Der Betriebsrat wird von der Belegschaft demokratisch
gewählt bzw. abgewählt und vertritt damit die innerbetrieblichen Interessen der Gesamtbelegschaft bei Leitung und Planung
gegenüber der Betriebsleitung. Das schließt die Wahl und Abwahl von Leitern mit ein!"
1990: Abbruch in den Betrieben
Spätestens im Sommer 1990 endete dieses Kapitel der DDR-
Geschichte. Bereits ab Anfang 1990 bereitete der westdeutsche DGB die rasche Ausdehnung seiner Gewerkschaftsstrukturen auf den Osten vor,
im Sommer 1990 fanden die ersten Betriebsratswahlen nach westdeutschem Muster statt. Diese Entwicklung wurde von der sehr großen
Mehrheit der Belegschaften begrüßt und eingefordert. Sie waren froh, sich angesichts der schwierigen Lage, wo es bereits forcierte
Massenentlassungen und Umstrukturierungen gab, auf eine etablierte und starke Interessenvertretung verlassen zu können.
In ihrer Mehrheit waren die Belegschaften während der Wende
ohnehin passiv geblieben, hatten höchstens die Beitragszahlung an den FDGB verweigert oder waren aus der alten Gewerkschaft
ausgetreten.
Für "utopische Experimente" war in dieser Entwicklung
kein Platz mehr. Die ProtagonistInnen der Aufbruchphase, die stets in der Minderheit geblieben waren, gerieten schnell ins Abseits. An ihre
Stelle trat ein pragmatische Sich-zurecht-Finden in den Strukturen der Bundesrepublik.
Der beginnende Prozess einer basisorientierten Auseinandersetzung war
beendet, ehe man über eine erste Stufe der Meinungsbildung "Was tun?" hinausgekommen war. Eine übergreifende
Bewegung oder Organisation war nicht entstanden. Die Entwürfe alternativer Satzungen wanderten in die Schublade.
Dennoch wird sich die oben genannte Veranstaltung am 27.November noch
einmal ausführlich mit dieser Zwischenzeit, der Zeit vor der "bundesdeutsche Normalität", befassen.
Dabei kann es nicht darum gehen, den stets minoritär gebliebenen
Ansätzen eine Bedeutung zuzuschreiben, die sie nicht hatten, oder diese auf andere Weise im Nachhinein zu idealisieren. Das Ziel der
Veranstaltung ist vielmehr ein zweifaches: Einerseits soll es eine kritische Aufarbeitung dieser marginalen selbstorganisierten
Betriebsaktivitäten von 1989 geben. Mit einer durchaus selbstkritischen Rückschau will man sich über Umfang, damalige
Bedeutung, unterschiedliche Praxisformen und die Ursachen des Scheiterns verständigen. Andererseits soll Raum gegeben werden
für die Vergegenwärtigung von produktiven Ansätzen, die in den 89er-Utopien enthalten waren.
Die Veranstaltung ist insofern nicht nur Retrospektive, sondern soll vor
allem Anstöße für eine Diskussion über die Perspektive betrieblicher Interessenvertretung geben. Der
"notwendige Überschuss" an utopischen Elementen, der im Herbst 1989 in den Betrieben der DDR Kolleginnen und Kollegen
zum Handeln getrieben hat, enthält dafür interessante Anregungen.