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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 11.11.1999, Seite 6

Die unbekannte Seite der DDR-Revolution

Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989

"Zehn Jahre 89 - Wende wohin?" nennt sich eine Veranstaltungsreihe, die derzeit in Berlin von der Ost-West-Arbeitsgruppe beim Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung durchgeführt wird. Sie versucht, der offiziellen Deutungsmacht des Umbruchs 1989 eine eigene Interpretation entgegenzusetzen, Erfahrungen der Selbstorganisation damals mit heutigen Auseinandersetzungen zu verbinden. Zu diesem Zweck werden - historisch einmalig - am 27.November in Berlin diejenigen Aktiven aus Betrieben und Einrichtungen der DDR zusammenkommen, die in der Zeit der "Wende" versucht haben, ihre Interessen als Beschäftigte zu artikulieren und sich zu organisieren. STEFANIE HÜRTGEN skizziert Hintergrund und Aktualität der Veranstaltung.
Als sich im November 1989 die Ereignisse in der DDR überschlugen und kein Tag verging, an dem nicht demonstriert wurde oder eine neue Rücktrittserklärung irgendeines Vorsitzenden in den Nachrichten zu hören war, schien in den Betrieben und Institutionen alles "seinen sozialistischen Gang" zu gehen.
Doch dieses Bild spiegelt nur die "halbe Wahrheit" wider: Für zahlreiche Belegschaften der DDR-Betriebe waren die Wochen und Monate zwischen dem Oktober 1989 und dem Frühjahr 1990 ereignisreicher und aufregender, als es die Geschichtsschreibung inzwischen vermuten lässt. In das entstandene Vakuum einer fehlenden Interessenvertretung - der FDGB war in eine "Schreckstarre" gefallen, der DGB stand noch nicht auf der "Matte" - stellten Gruppen oder einzelne Kollegen weitreichende Forderungen und initiierten die Gründung unterschiedlichster Vertretungsorgane. Es gab 1989 den "kurzen Herbst der Anarchie" (Volker Braun) nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den Betrieben.
Die Motive, die die Arbeiter und Angestellten dazu bewogen, sich aktiv in das Betriebsgeschehen einzumischen, war zum einen das Gefühl, dass sich in den Betrieben nichts rührte, alles beim alten und die Leitung auf ihrem Posten blieb; zum anderen wurde man immer noch ohne Informationen und ohne "Durchblick" gehalten und hatte nichts zu sagen.
"Die Wende in die Betriebe holen", war die Devise, und das hieß: Staat und Partei raus aus dem Betrieb, Kampfgruppen raus, Stasi raus, Absetzung der unfähigen Leitungen, Zerschlagung der alten Strukturen sowie Offenlegung der Informationen über betriebliche Vorgänge, um sich endlich einbringen zu können und mitzureden.
Das Problem der fehlenden Transparenz von Entscheidungen und das weiterhin bestehende Informationsdefizit der Beschäftigten bekam zusätzliche Brisanz, als im November und Dezember 1989 zahlreiche Betriebsleiter anfingen, ihre Umstrukturierungspläne mit ersten "Kontaktaufnahmen" zu Westfirmen zu verbinden. Ein kleinerer Teil der aktiven Kollegen wollte auch, angesichts der sehr späten und äußerst zögerlichen Reformbereitschaft des FDGB, Gewerkschaften aufbauen, die von allen Parteien und Massenorganisationen unabhängig sein sollten.
Die Erwartungen dieser Monate mündeten in Forderungen nach Lohnerhöhung, besseren Arbeitsbedingungen, höheren Renten, Angleichung der Löhne der Angestellten u.a. In den Werken wurden Aufruf mit der Forderung an den Betriebsleiter verteilt, sich der Vertrauensfrage zu stellen.
Will man die Bedeutung eines solchen Vorgangs für die Verfasser ermessen, muss man sich vergegenwärtigen, dass es für Arbeiter in der DDR 50 Jahre lang so gut wie keinen öffentlichen Protest gegeben hatte. 1989 lebte eine Arbeitergeneration, deren gemeinsame Erfahrung in maulender Anpassung, Verweigerung oder Flucht bzw. Ausreise in den Westen bestand; erst im Oktober 1989 begann sie, durchaus noch risikoreich, sich wieder Praktiken einer kollektiven Auseinandersetzung anzueignen.

1989: Aufbruch in den Betrieben
Noch wenig beeinflusst von dem "nebenan" praktizierten westdeutschen Vertretungsmodell, experimentierte man in diesen Wochen der "Zwischenzeit" mit Formen und Inhalten einer künftigen Interessenvertretung und entwickelte eine ganz eigene Mischung aus erinnerter früherer Praxis und spontanen Vorstellungen, die aus dem aktuellen Bedarf entstanden. In einem Auszug aus einem Flugblatt vom 20.12.89 der "Initiativgruppe Unahbängige Industrie-Gewerkschaft im VEB Werk für Fernsehelektronik Berlin (WFB)" heißt es:
"Der FDGB hat bislang die Interessen von Staat und Partei gegen die Arbeiter vertreten. Das Machtmonopol der SED zerbricht. Sollte der FDGB sich nicht radikal wandeln, wollen wir eine Alternative werden. Deshalb organisieren wir uns und jeder Werktätige - unabhängig von seiner FDGB-Mitgliedschaft - kann seine Interessen einbringen. Wir sehen unsere Hauptaufgabe in der Durchsetzung der Interessen der Werktätigen, und nur dieser, bezüglich der Arbeitsbedingungen, u.a.: Arbeits- und Gesundheitsschutz (Abbau körperlich schwerer und gesundheitsgefährdender Arbeit, Anerkennung von Berufskrankheiten); Umweltschutz (Einhaltung entsprechender Gesetze); Tarifbedingungen (steigende Löhne und Gehälter bei steigendem Gewinn, höhere Renten, Weihnachtsgeld, leistungsorientierte Prämien, geringere Wochenarbeitszeit bei gleichem Lohn und gleicher Leistung, geringere und der Lebenserwartung angepasste Lebensarbeitszeit, Urlaubszeit, gerechter Grundurlaub und arbeitsbedingter Zusatzurlaub, Haushaltstag für alle Werktätigen ab dem 40.Lebensjahr); soziale Versorgung (vitaminreiche und abwechslungsreiche Versorgung); Mitbestimmung bei innerbetrieblichen Arbeitskräftelenkungen; Kontrolle der Betriebsergebnisse und Mitbestimmung bei Maßnahmen der Betriebsleitung; Durchsetzung von Konsequenzen bei wiederholten ökonomischen Fehlentscheidungen der Betriebsleitung; Rechtsvertretung der Werktätigen in arbeitsrechtlichen Fragen.
Voraussetzungen dafür sind: Unabhängigkeit von allen Parteien und Massenorganisationen; Mitglieder in der Leitung der IUG dürfen keine Mitglieder der SED sein (kurzfristig) bzw. dürfen in keiner leitenden Funktion einer Partei oder politischen Organisation tätig sein. Leitungskader des Betriebs dürfen keine IUG- Leitungsfunktionen übernehmen. Unabhängigkeit von der Betriebsleitung, allgemeine Rechenschaftslegung, Offenlegung aller Finanzierungen und basisdemokratischer Aufbau und Entscheidungsfindung in der IUG."
In einem Auszug aus einem Flugblatt des gleichen Betriebs vom 7.2.1990 ist zu lesen:
"Die uns alle bewegende Frage, wie es wirtschaftlich in unserem Land weitergeht, scheint niemand von der entsprechenden staatlichen bzw. betrieblichen Leitung beantworten zu können. (Oder wollen sie nicht?) Einige Beispiele dazu aus dem VEB WF Berlin: Es fanden Verhandlungen zwischen der Betriebsleitung des VEB WFB und Siemens über die Bedingungen des Ausverkaufs statt. Belegschaftsvollversammlung des Werkteils Pankow am 6.1.90: nur Geschwafel, kein konkretes Konzept, weder ökonomische noch F/E-Strategie [Forschung und Entwicklung], aber der Plan ist erfüllt. Bereichsvollversammlung im WF-Kulturhaus am 24.1.90: In selbstgefälliger, überheblicher, verantwortungsloser Weise stellte Dr. Lehmann (wie bereits vor der ‚Wende‘) dar, dass er kein Konzept hat. Einziger eindringlich genannter Termin ist der Wahltag, wer bis jetzt nicht durch ‚fleißige‘ Arbeit auf sich aufmerksam gemacht hat, solle es vorziehen, zu Hause zu bleiben. Er kenne nur zehn (von 350) Werktätige, die am Arbeitsplatz ‚durch Arbeit auffallen‘, wer auch jetzt nicht fleißig arbeite, werde künftig nicht mehr gebraucht.
Auf vielfältige Anfragen bezüglich Verantwortungslosigkeit, Arbeitsleistung und Unvermögen staatlicher und betrieblicher Leiter teilte Dr.Lehmann mit, dass diese weiterhin in ihren Funktionen verbleiben würden. Eventuelle Vorbehalte gegen seine Person wären mit den entsprechenden Rechtsmitteln zu klären.
VVV im WF-Kulturhaus am 25.1.1990: Bericht des Betriebsdirektors ergab: Es liegt kein Konzept vor. Aber im Februar wird womöglich der neue Betriebsdirektor eines haben. Der ökonomische Direktor wies darauf hin, dass es eine schwere Aufgabe sei, keine Arbeitskräfte zu entlassen, aber diese Aufgabe sei lösbar.
Fazit: Ökonomische Konzepte fehlen - warten auf Konzerne aus dem Goldenen Westen. Während Betriebe in der DDR geschlossen werden, bittet die WF-Leitung um Sorglosigkeit, verschleiert die Situation und stellt Arbeitslosigkeit als Ausnahme anderer Betriebe dar. Verantwortungslose Leiter behalten ihren Posten. Und die ‚kleinen Leute‘? Die werden wohl gehen müssen?!"
Schaut man sich die Aufrufe, offenen Briefe oder Strukturvorschläge für eine eigene Interessenvertretung von 1989 an, so fallen - unabhängig von den jeweiligen Verfassern - zwei Eigentümlichkeiten auf.
Erstens: Die Forderungen sind mehrheitlich aus der Position eines basisdemokratischen Verständnisses von Beteiligung formuliert. Gegen den zentralistischen Aufbau des FDGB wollte man eine Struktur von unten nach oben schaffen, und zwar durch eigene Aktion, nicht in Erwartung einer Maßnahme von oben. "Selbstbestimmte Gewerkschaftsarbeit heißt für uns zunächst, einen mühsamen, keinesfalls misserfolgsfreien und risikoreichen Lernprozess in Gang zu setzen, der aber nur ganz unten, bei jedem einzelnen beginnen kann", heißt es in einem Aufruf von Berliner Krankenschwestern. Jederzeitige Abwählbarkeit von gewählten Interessenvertretern war seinerzeit ebenso wenig umstritten wie die weitestgehend ehrenamtliche Arbeit in den gedachten Vertretungen.
Zweitens: Die Forderungen der Aufbruchphase enthielten Ansprüche an eine Mitbestimmung der Belegschaft, die teilweise weit über das Maß nicht nur der bundesdeutschen Regelungen hinausgingen. Im Anschluss an das standardmäßig geforderte Recht auf Informationen und Offenlegung aller Betriebsunterlagen finden sich häufig Forderungen nach einem Vetorecht für die Interessenvertretung der Belegschaften, nach weitgehenden Mitspracherechten (bei Investitionsvorhaben, Personalfragen, Sozialfragen und betrieblichen Umgestaltungen) bzw. Forderungen nach Wahl der Betriebsleitungen. In einem Positionspapier der Betriebsgruppe des Neuen Forums heißt es: "Der Betriebsrat wird von der Belegschaft demokratisch gewählt bzw. abgewählt und vertritt damit die innerbetrieblichen Interessen der Gesamtbelegschaft bei Leitung und Planung gegenüber der Betriebsleitung. Das schließt die Wahl und Abwahl von Leitern mit ein!"

1990: Abbruch in den Betrieben
Spätestens im Sommer 1990 endete dieses Kapitel der DDR- Geschichte. Bereits ab Anfang 1990 bereitete der westdeutsche DGB die rasche Ausdehnung seiner Gewerkschaftsstrukturen auf den Osten vor, im Sommer 1990 fanden die ersten Betriebsratswahlen nach westdeutschem Muster statt. Diese Entwicklung wurde von der sehr großen Mehrheit der Belegschaften begrüßt und eingefordert. Sie waren froh, sich angesichts der schwierigen Lage, wo es bereits forcierte Massenentlassungen und Umstrukturierungen gab, auf eine etablierte und starke Interessenvertretung verlassen zu können.
In ihrer Mehrheit waren die Belegschaften während der Wende ohnehin passiv geblieben, hatten höchstens die Beitragszahlung an den FDGB verweigert oder waren aus der alten Gewerkschaft ausgetreten.
Für "utopische Experimente" war in dieser Entwicklung kein Platz mehr. Die ProtagonistInnen der Aufbruchphase, die stets in der Minderheit geblieben waren, gerieten schnell ins Abseits. An ihre Stelle trat ein pragmatische Sich-zurecht-Finden in den Strukturen der Bundesrepublik.
Der beginnende Prozess einer basisorientierten Auseinandersetzung war beendet, ehe man über eine erste Stufe der Meinungsbildung "Was tun?" hinausgekommen war. Eine übergreifende Bewegung oder Organisation war nicht entstanden. Die Entwürfe alternativer Satzungen wanderten in die Schublade.
Dennoch wird sich die oben genannte Veranstaltung am 27.November noch einmal ausführlich mit dieser Zwischenzeit, der Zeit vor der "bundesdeutsche Normalität", befassen.
Dabei kann es nicht darum gehen, den stets minoritär gebliebenen Ansätzen eine Bedeutung zuzuschreiben, die sie nicht hatten, oder diese auf andere Weise im Nachhinein zu idealisieren. Das Ziel der Veranstaltung ist vielmehr ein zweifaches: Einerseits soll es eine kritische Aufarbeitung dieser marginalen selbstorganisierten Betriebsaktivitäten von 1989 geben. Mit einer durchaus selbstkritischen Rückschau will man sich über Umfang, damalige Bedeutung, unterschiedliche Praxisformen und die Ursachen des Scheiterns verständigen. Andererseits soll Raum gegeben werden für die Vergegenwärtigung von produktiven Ansätzen, die in den 89er-Utopien enthalten waren.
Die Veranstaltung ist insofern nicht nur Retrospektive, sondern soll vor allem Anstöße für eine Diskussion über die Perspektive betrieblicher Interessenvertretung geben. Der "notwendige Überschuss" an utopischen Elementen, der im Herbst 1989 in den Betrieben der DDR Kolleginnen und Kollegen zum Handeln getrieben hat, enthält dafür interessante Anregungen.

Die Veranstaltung findet im neuen Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin, in der Greifswalder Straße 4 (Nähe Alexanderplatz), statt. Sie ist kostenfrei. Weitere Informationen bei Stefanie Hürtgen: (030) 4463098.


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