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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 11.11.1999, Seite 8

Sonderbehandlung für Roma

Interview zur Situation der Roma in Belgien und Europa

Gelegentlich berichten die westlichen Medien über die Diskriminierung und rassistische Verfolgung, der die Roma in den Ländern Mittel- und Südosteuropas, bspw. in Tschechien, der Slowakei oder Ex-Jugoslawien, ausgesetzt sind. Doch auch in Westeuropa ist die Situation der Roma beunruhigend. Das jüngste Beispiel ist die Massenabschiebung von 74 Roma ohne Papiere in die Slowakei durch die belgische Regierung (einer Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen). Die Abschiebung verstößt gegen einen Eilentscheid des Europäischen Gerichtshofs (siehe SoZ 21/99). Die belgische Zeitung "Rood" führte das nachstehende Interview mit MAUDE COLS, Sprecherin des Dachverbands der belgischen Roma- Organisationen, über die Situation der Roma in Belgien und Europa.

Wie schätzen Sie die Massenabschiebung ein?
Maude Cols: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass allen Roma, die am 5.Oktober abgeschoben wurden, mit unauslöschlicher Tinte eine Nummer auf dem Arm angebracht wurde. Darüber hat die Presse geschwiegen. Es handelte sich um eine Kodenummer, wie früher bei den Nazis!
Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Im Juni dieses Jahres haben die Roma im Lütticher Bezirk Coronmeuse, wo es ein Roma-Lager gab, auch alle eine Nummer bekommen. Ein Diebstahl wurde dort zum Vorwand genommen, alle Lagerbewohner zu verhaften. Das ist allein schon ein Skandal. Wenn ich morgen einen Diebstahl begehe, werden ja auch nicht meine ganze Familie, meine Nachbarn oder gar mein ganzes Dorf verhaftet. Aber im Fall der Roma wird gewöhnlich die ganze Gemeinschaft mit kriminalisiert.
Aber das ist nicht alles. Nach der Verhaftung wurden Männer, Frauen und Kinder voneinander getrennt. Das jüngste war ein Baby von einem Monat. Alle bekamen ein Armband mit einer Nummer um das Handgelenk gebunden. Bei den Kleinsten, auch dem Säugling, wurde das Armband um den Bauch gebunden. Wenn es erst einmal fest saß, bekam man es nur sehr schwer wieder los.
Die Kinder wurden dann in einem Bus der Gendarmerie eingeschlossen - an einem sehr heißen Tag. In diesem Bus wurden sie sechs Stunden lang festgehalten, ohne auch nur ein Glas Wasser zu bekommen. Während die Kinder weinten und schrien, weil sie Durst hatten und von ihren Eltern getrennt worden waren, machte der sie bewachende Gendarm eine rassistische Bemerkung, die auch die anwesenden Journalisten gehört hatten. Das Zentrum für Chancengleichheit hat darauf den Beamten angezeigt. Doch so weit ich weiß, haben weder das Zentrum noch die Liga für die Menschenrechte noch die Bewegung gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (BRAX) eine Anzeige wegen der nummerierten Armbänder eingereicht.
Darüber hinaus wurden die Roma, auch die Kinder, wie Kriminelle fotografiert: ein Foto im Profil von links, eins von rechts und ein Foto von vorn. Ferner wurden von allen Fingerabdrücke abgenommen. Und nicht nur von einem Finger, nein von allen zehn! Kodenummern, Fotos, Fingerabdrücke... das erinnert doch stark an die Methoden der Nazis.

Die Methoden, die jetzt bei der Abschiebung angewandt wurden, sind also nicht neu?
Im Grunde ist es die Fortsetzung der Politik, die von der alten Regierung vertreten wurde. Der frühere Innenminister Vanden Bossche hatte für den 12. bis 19.Februar 1999 eine Kommission nach Tschechien und in die Slowakei entsandt. Offiziell sollte die Kommission die Lage der Roma in diesen Ländern erkunden. Eine Woche scheint mir eine recht kurze Zeit für eine ernsthafte Untersuchung. Ich glaube, dass diese Kommission dort in Wirklichkeit ein Abkommen für die Rückführung der Roma in diese Länder geschlossen hat. Dabei wurden die dortigen Regierungen unter Druck gesetzt: Im Falle der Weigerung, ein solches Abkommen zu schließen, sollten tschechische und slowakische Bürger nicht mehr ohne Visum nach Belgien einreisen dürfen.
Die Abschiebung ist also Teil eines Plans, der seit Monaten vorbereitet wurde. Vanden Bossche wollte 3296 aus Osteuropa stammende Roma abschieben. Diese Zahl ist sehr genau! Er hat sie selbst am 5.Februar im Parlament bekannt gegeben. Dabei sprach er nicht direkt von Roma, sondern von "Asylbewerbern aus vier Ländern Osteuropas": Rumänien, Bulgarien, Tschechien und die Slowakei. Da von einigen Ausnahmen abgesehen fast alle Flüchtlinge aus diesen Ländern Roma sind, war klar, welche Gruppe der Minister meinte. [Der jetzige Innenminister] Duquesne macht also da weiter, wo sein Vorgänger aufgehört hat. Wobei er die Repression noch verstärkt.
Die jüngste Abschiebung hat noch einmal deutlich gemacht: dieses Land vertritt eine erschreckend repressive Flüchtlingspolitik. Die Ausweisung von Menschen ohne Papiere ist eine Schande. Aber darüber hinaus zeigt dieser Fall auch, dass es eine Spezialbehandlung für Roma gibt: die Kennzeichnung mit unauslöschlicher Tinte hat es bei der Abschiebung anderer Flüchtlinge nicht gegeben.

Auf welche Weise werden die Roma in Belgien diskriminiert?

Die Diskriminierungen sind für sie eine alltägliche Erfahrung. Nehmen wir das Beispiel von Coronmeuse. In Lüttich haben die Behörden für die Roma keinen Lagerplatz vorgesehen. Nach den EU-Richtlinien muss den Roma aber ein Standplatz zugewiesen werden, andernfalls müssen die Behörden "wildes Kampieren" tolerieren. Da die Behörden in Lüttich es nicht lange "tolerieren" wollten, taten sie alles, um den Roma die Lebensbedingungen unerträglich zu machen. So weigerte man sich, den Abfall zu entsorgen. Die Menschen mussten in ihrem eigenen Müll leben. Das Problem wurde zwar inzwischen gelöst, aber die Roma mussten für die Müllbeseitigung 12.000 Franken bezahlen. Auch das Wasser wurde ihnen abgestellt.
Häufig stellen wir fest, dass die Roma Standplätze zugewiesen bekommen, die völlig heruntergekommen sind und erst einmal gesäubert werden müssen. Das sind oft wahre Müllhalden. Die Geschichten über die angeblich unhygienische Lebensweise der Roma stellen die Realität auf den Kopf. Die Behörden haben dann manchmal noch die Dreistigkeit zu behaupten, dass die Roma einen anderen Lebenstil haben als die Belgier und deshalb besser verschwinden sollen. Erst gibt man ihnen nur einen Müllplatz zum Leben und dann wird das dann zum Anlass genommen, sie zu vertreiben.
Doch wo sollen sie hingehen, wenn ihnen die Gemeinden kein Grundstück zur Verfügung stellen? In Belgien ist es nicht erlaubt, länger als 24 Stunden auf öffentlichen Wegen zu kampieren. Darüber hinaus gibt es ein Gesetz, das es Eigentümern verbietet, Gelände zu verleihen, und die Städte sind sowieso verbotenes Terrain für die Roma.
Außerdem gibt es die Kontrollen: Viele behaupten, die Roma wären unkontrollierbar. Nichts ist weniger wahr. Man weiß alles über sie. Sie werden täglich kontrolliert. In Verviers wurden sie verpflichtet, sich jeden Tag in der Gemeindeverwaltung zu melden. Tatsächlich sind die Roma die am besten kontrollierte Bevölkerungsgruppe Europas. In der enormen Kartei, die Produkt des Schengener Abkommen ist, gibt es eine besondere Kategorie für Kriminelle, für "Subversive" und… für Roma. Die Tatsache, zu den Roma zu gehören, macht einen schon verdächtig. Schätzungsweise sind sogar eine Million Romakinder in dieser Kartei erfasst, mit Foto und Fingerabdrücken. Welchen Sinn hat das? Normalerweise kann doch keiner mit Fingerabdrücken von Kindern etwas anfangen. Von daher scheint mir ein längerfristiger Plan dahinter zu stecken. Die Kinder von heute werden bald die erwachsenen Roma von morgen sein…

Handelt es sich nicht darum, diese Menschen zu zwingen, die herrschende sesshafte Lebensweise anzunehmen?

Die Methode der Nazis war einfach: ein Drittel wurde assimiliert, ein Drittel ausgewiesen, ein Drittel wurde vernichtet. Und eigentlich sind diese drei Elemente heute wieder da, auch die Vernichtung: während des Krieges in Ex-Jugoslawien fanden wirkliche Massenmorde an Roma statt. Nach einer Studie des Europarats machten die Roma einen beträchtlichen Anteil der Opfer des Krieges in Bosnien aus.
Natürlich sind alle Mörder gleich schlimm, wer auch immer das Opfer ist. Aber über die Verbrechen an den Roma wird gewöhnlich nicht gesprochen oder geschrieben. Auch im Konflikt im Kosovo wurden Roma ermordet und deportiert. Sie wurden beschuldigt, die serbische Armee unterstützt zu haben. In Wirklichkeit waren sie Opfer beider Lager, denn einige von ihnen wurden gezwungen, die Schmutzarbeit für serbische oder albanische Extremisten zu machen. In Wirklichkeit hatten die Roma kein Interesse an diesem Krieg. Roma stellen keine territorialen Forderungen.
In Tschechien und in der Slowakei gibt es Gruppen von Skinheads, die vor Morden an Roma nicht zurückschrecken und von den Behörden geschützt werden. In Rumänien gibt es wirkliche Pogrome gegen die Romabevölkerung. Dort werden bereits ganze Dörfer niedergebrannt. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man diese Menschen, wenn man sie in diese Länder abschiebt, möglicherweise in den Tod schickt. Was wird unsere Regierung sagen, wenn bekannt wird, dass einige der abgeschobenen Roma Opfer von Mordanschlägen geworden sind? Wird sie die Ahnungslose spielen?

Wie reagiert die Roma-Gemeinde auf die Abschiebung?

Alle Roma, auch die mit einem belgischen Pass, sind darüber erschrocken. Die belgischen Roma haben immer noch Angst vor den Behörden dieses Landes. Viele von ihnen sind davon überzeugt, dass eine echte Entnazifierung in der belgischen Verwaltung nicht stattgefunden hat. Die Beamten, die damals Roma, Juden oder Widerstandskämpfer nach Mechelen oder Breendonck deportiert haben, haben nach der Befreiung ihre Posten behalten. Da die Diskriminierung der Roma nach dem Krieg nicht verschwunden ist, haben viele bis heute Angst vor den Behörden. Mit der jüngsten Massenabschiebung wird diese Angst nur noch größer werden.
Aus: "Rood" (Brüssel), Jg.32, Nr.19, 15.10.1999.
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