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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 11.11.1999, Seite 13

Mehr Respekt vor der arbeitenden Bevölkerung

Brasiliens Arbeiterpartei (PT) und der Beteiligungshaushalt in Rio Grande do Sul

Im Rahmen eines Besuchs von Vertretern verschiedener PT-regierter Städte in Deutschland konnte Hermann Dierkes das folgende Gespräch mit PAULO ROBERTO LEBOUTTE (41), dem Stadtverbandsvorsitzenden des Gewerkschaftsdachverbands CUT in Porto Alegre (Brasilien), führen. Besonders interessiert hat uns die aktuelle Lage im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul, der bei den Gouverneurswahlen vor einem Jahr an die PT (Arbeiterpartei) gegangen ist, sowie die Entwicklung vor den Kommunalwahlen, die im Oktober kommenden Jahres stattfinden werden. Die Landeshauptstadt Porto Alegre wird seit 1988 von der PT verwaltet.


Kollege Leboutte, du bist Vorsitzender der CUT in der Porto Alegre. In dieser Stadt hat die PT schon im November 1987 ihren ersten großen Wahlsieg errungen.Welche allgemeine Bilanz ziehst du für die zurückliegenden Jahre?
Die Bilanz über die Volksverwaltung ist sehr positiv. 1988 standen wir enormen sozialen und strukturellen Problemen gegenüber, insbesondere in den Armenvierteln rund um die Stadt. Doch unser Konzept des Beteiligungshaushalts hat zu jährlichen Investitionen geführt, die die Lage der Bevölkerung deutlich verbessert haben. Die Bevölkerung hat uns bei der Lösung dieser Aufgaben geholfen, sie hat sich über Diskussionen und Abstimmungen in die Prioritätensetzung eingemischt. Damals wie heute geht es vor allem um eine grundlegende Sanierung, z.B. um die Befestigung von Straßen und Wegen (inzwischen konnte dies im Stadtgebiet fast 100%ig erreicht werden).
Es geht um die Regulierung von Grundstücken und Häusern, die von den Armen im Laufe der Jahre besetzt wurden. Die menschlichen Grundbedürfnisse und die Menschenwürde werden heute in unserer Stadt respektiert, im Gegensatz zu den Zeiten der bürgerlichen Stadtverwaltungen vorher. Ein gut ausgebautes Nahverkehrssystem, Gesundheits-, Wasser- und Abwasserversorgung, Bildung und Ausbildung stehen dabei ganz oben. Die Anzahl der Kinderkrippen und Kindergärten ist heute wesentlich höher als je zuvor. Dies erlaubt es viel mehr Frauen, einer Ausbildung oder einem Beruf nachzugehen. Gerade die Frauen sind es auch, die sich sehr stark an den Beratungen beteiligen.
In den drei zurückliegenden Wahlen haben wir unser Stimmenergebnis jedesmal steigern können. Die Kommunalwahlen im kommenden Jahr dürften die Stellung der PT in Porto Alegre bestätigen, trotz der hartnäckigen Opposition der Konservativen, die im Stadtrat immer die Mehrheit hatten. Aber ihre Oppositionsrolle fällt ihnen nicht leicht. Ständig sind sie massivem politischen Druck ausgesetzt, sodass sie die Initiativen und Vorschläge der PT und aus der Bevölkerung nicht ohne weiteres ablehnen können. Es gibt nur wenige Fälle, wo die Vorschläge der Stadtregierung im Rat zurückgewiesen wurden.
Ein anderer Aspekt in der über zehnjährigen Bilanz ist das Wachstum der PT in der Stadt selbst. Heute haben wir sehr viel mehr Mitglieder und Sympathisanten als in den Jahren zuvor. Die Bevölkerung erkennt die positive Rolle der PT bei all diesen positiven Veränderungen an. Sie sieht sie nicht nur als das verdienstvolle Werk des einen oder anderen Oberbürgermeisters.
Seit 1988 hatten wir drei Oberbürgermeister: Olívio Dutra, Tarso Genro und heute Raul Pont. Aber für die positive Entwicklung wird die Partei als ganze, wird die Rolle der Bevölkerung im Beteiligungshaushalt verantwortlich gemacht. Wir dürfen nicht vergessen, dass Politik in Brasilien immer sehr stark personalisiert wurde und wird.

Nun kann in einer Großstadt wie Porto Alegre mit ihren vielen sozialen Problemen sicher nicht alles über Nacht besser werden. Außerdem war die Landesregierung bis vor einem Jahr bürgerlich und die Zentralregierung in Brasília ist es bis heute. Gab es Konflikte zwischen den Gewerkschaften und der Stadtregierung, kannst du Beispiele geben? Wie habt ihr sie gelöst?
Die Beziehung zu den Bundes- und Landesregierungen, die ja immer rechts waren, war stets sehr schwierig. Die Stadt Porto Alegre hat nie mehr Unterstützung erhalten als das Minimum, das die Gesetze vorsehen, z.B. in Sachen Gemeindefinanzierung. Wenn es dennoch zu einigen wenigen Investitionen gekommen ist, so deshalb, weil auch die Konservativen in den zurückliegenden Wahlen auf Stimmen aus waren. Politisch gab es immer wieder sehr viele harte Auseinandersetzungen mit den Verantwortlichen in Land und Bund.
Zum Beispiel in der Schulfrage. Die Grundschulen liegen im Verantwortungsbereich der Stadt, für die weiterführenden Schulen ist das Land verantwortlich. Jedesmal, wenn aus der Bevölkerung mehr und bessere weiterführende Schulen gefordert wurden, hat die Landesregierung die Stadtregierung beschuldigt, nicht genug zu tun. In Wahrheit trägt sie selbst und trägt die Bundesregierung die Schuld an zahllosen Missständen. Porto Alegre ist schließlich keine Insel, die vom Rest der Gesellschaft getrennt ist.
Bund und Land haben immer eine Politik verfolgt, die zu hoher Erwerbslosigkeit führt, und es ist einfach unmöglich, das Problem der Massenarbeitslosigkeit mit den kommunalpolitischen Möglichkeiten einer einzigen Stadt zu lösen. Die Konservativen haben aber ständig der Stadtregierung die Schuld dafür zugeschoben. Die Bevölkerung hat diese Demagogie allerdings durchschaut. Ähnliches gilt für die in Brasilien allgemein, aber auch in Porto Alegre großen Probleme der sozialen Gewalt und der öffentlichen Sicherheit. Solange die Massenarbeitslosigkeit, die soziale Not und die massiven Wohnungsprobleme nicht beseitigt sind, solange lässt auch die soziale Gewalt nicht nach. Das kann eine Stadtregierung allein nicht lösen, letztlich muss die gesamte Wirtschafts- und Sozialstruktur des Landes geändert werden, die von den Rezepten der Neoliberalen geprägt wird. Die Bevölkerung hat das verstanden und hat auch erkannt, dass die PT in der Stadtpolitik alles tut, was sie tun kann.
Zum Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Stadtpolitik kann ich folgendes sagen: Die meisten gewerkschaftlichen Forderungen und Auseinandersetzungen drehen sich bei uns wie überhaupt in Brasilien um Löhne, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze. Es handelt sich um weitgehend korporatistisch geführte Auseinandersetzungen. Das war auch beim Antritt der PT-Verwaltung so. Die Beschäftigten der Stadtverwaltung setzten ihren Kampf um höhere Einkommen fort, und es gab mehrere Male bedeutende Auseinandersetzungen mit der PT-Verwaltung, insbesondere während der ersten Wahlperiode. Bei den Beschäftigten herrschte die Meinung, die PT könne die Probleme quasi über Nacht lösen.
Damals gab es einen bemerkenswerten Konflikt zwischen der Versammlung der städtischen Beschäftigten und der Stadtregierung. Ein Streik lag in der Luft und Olívio Dutra, der erste Oberbürgermeister, wurde aufgefordert, vor der Versammlung zu sprechen. Olívio verließ die Ratssitzung und sprach zu den Versammelten über die finanziellen Schwierigkeiten der Stadt und den Scherbenhaufen, den die Konservativen hinterlassen hatten.
Dennoch traten die Beschäftigten in den Streik, er dauerte einige Tage und dehnte sich auf das Bildungswesen, den Gesundheitsbereich und die Müllabfuhr aus und setzte die Stadtverwaltung unter Druck. Diese machte schließlich einige Zugeständnisse, und die Beschäftigten nahmen nach einigen Tagen ihre Arbeit wieder auf. Sie hatten nicht alle ihre Forderungen durchsetzen können, aber erfahren, dass die neue Stadtregierung sie ernst nahm.
In den folgenden Jahren setzte sich dies fort - besonders im Rahmen der alljährlichen Lohnrunden. Die PT hat stets die Mobilisierungen respektiert und versucht, eine akzeptable Lösung zu vereinbaren - allerdings hat der sich parallel dazu entwickelnde Beteiligungshaushalt die Lage deutlich verändert.
Nun steht im Zentrum der öffentlichen Debatte mehr und mehr die Frage, wofür die knappen städtischen Gelder in erster Linie eingesetzt werden sollen. In den letzten Jahren haben die Konflikte zwischen der Gewerkschaft im öffentlichen Dienst und der Stadtregierung sehr stark abgenommen. Vor allem auch deshalb, weil die Gewerkschaftsführung nicht mehr sehr glaubwürdig ist. Ihre Demonstrationsaufrufe werden kaum noch beachtet, es sind fast nur noch die Funktionäre und wenige Aktiven, die gegen die Stadtverwaltung demonstrieren. Die Arbeitsbedingungen in der Verwaltung sind allerdings inzwischen vergleichsweise die besten - und dies in einer Situation, wo die Preise für Güter des täglichen Bedarfs wieder rapide steigen. Die Einkommen der Beschäftigten der Stadtverwaltung von Porto Alegre werden alle zwei Monate an die Preisentwicklung angepasst. Das gibt es für keinen Beschäftigten in anderen Branchen.
Die CUT unterstützt die Mobilisierung für gewerkschaftliche Forderungen selbstverständlich, aber wir wirken seit Jahren daraufhin, dass diese Auseinandersetzungen nicht auf die alte korporatistische Weise geführt werden. Wir versuchen, im Spannungsfeld "Stadtverwaltung - öffentliche Bedürfnisse - Forderungen der öffentlichen Beschäftigten" einen Ausgleich herbeizuführen. Damit die gewerkschaftlichn Mobilisierungen sich nicht gegen die Ergebnisse und Projekte des Beteiligungshaushalts und damit gegen die Bevölkerung richten. Schließlich geht es hier nicht um einen klassischen Konflikt zwischen Gewerkschaft und Privatkapitalisten.

Was hat sich seit dem Wahlsieg von Olívio im Oktober 1998 geändert, seitdem nun auch die Landesregierung von der PT gestellt wird?
Die Erfolge in Porto Alegre haben sich auch auf andere Städte und Gemeinden im Bundesland Rio Grande do Sul ausgewirkt. 1990 konnte die PT außer in Porto Alegre nur in zwei weiteren Städten einen Wahlsieg verzeichen. Heute regiert sie in 26 Städten und Gemeinden, und das Wachstum hält an. Bei den Gouverneurswahlen im vergangenen Jahr haben wir mit unserem Kandidaten und vormaligen Bürgermeister von Porto Alegre Olívio Dutra den Bundesstaat Rio Grande do Sul gewonnen. Und weil für eine ganze Reihe von Problemen in Porto Alegre und anderen Städten und Gemeinden die Landespolitik verantwortlich ist, haben die Erwartungen der Bevölkerung natürlich enorm zugenommen.
Von der Landespolitik wird jetzt erwartet, dass sie andere Prioritäten setzt und dass sie ihre Energie und Mittel einsetzt, um vor allem die Probleme der lohnabängigen Bevölkerung zu lösen. Dazu gehört z.B. die Frage der technischen und der medizinischen Ausbildung. Die Lage ist sehr viel schwieriger als noch in der ersten Wahlperiode in Porto Alegre. Wir haben die Landesregierung unter Britto abgelöst, der mit seinem harten neoliberalen Kurs zahlreiche Staatsbetriebe privatisiert, den Staatshaushalt vollkommen überschuldet und kaum noch öffentliche Investitionen durchgeführt hat.
Die Konservativen haben allein etwa 2 Milliarden Dollar Subventionen an multinationale Konzerne gezahlt, obwohl diese mit ihren Unternehmen nur sehr wenig Arbeitsplätze geschaffen haben. Mit diesem Geld hätte man im Rahmen einer Landreform z.B. viel mehr erreichen können. Bei General Motors kostet jeder neue Arbeitsplatz 800- 900 US-Dollar, in der Landwirtschaft sind dafür nur 10-14 US-Dollar nötig. Diesen Fehler muss die PT nun beheben.
Die neue Landesregierung hat in über 400 Versammlungen den Prozess des Beteiligungshaushalts nun auch auf Landesebene initiiert. Dagegen laufen die Konservativen Sturm. Sie haben im Landtag zusammen 56 Abgeordnete, die Linke zählt nur 15, 16; außerdem stellt sich die Bundesregierung frontal gegen uns.
Wir lehnen auch die Rückzahlung eines Teils der Schulden ab, wir halten sie für illegal. Im Gegenzug hält die Bundesregierung die Zuweisungen zurück, die uns aus dem Steueraufkommen des Bundes zustehen.

Welche Erwartungen hast du an die Kommunalwahlen im kommenden Jahr?
Die Erwartungen der arbeitenden Bevölkerung sind enorm gestiegen; eine Landesregierung hat ja schon mehr Möglichkeiten als eine Stadtregierung. Der Widerstand der Konservativne hat sich jedoch verhärtet; die politischen Initiativen der Landesregierung werden tagtäglich ausgebremst und blockiert. Als der Beteiligungshaushalt auch auf Landesebene eingeführt werden sollte, hat die rechte Landtagsmehrheit ein Gesetz beschlossen, das der Regierung Dutra verbietet, dafür Geld auszugeben. Es gab auch gerichtliche Schritte. Daraufhin haben die CUT, die Kirchen und die linken Parteien Geld gesammelt, um Säle zu mieten und das erforderliche Material anzuschaffen.
Als der mit der Bevölkerung zusammen ausgearbeitete Haushalt schließlich im Parlament vorlegt wurde, demonstrierten 10.000 Menschen vor dem Landtag für den Haushalt. Auf der kommunalen Ebene haben die Rechten den Beteiligungshaushalt zur Zeit geschluckt, aber auf Landesebene wollen sie ihn mit allen Mitteln verhindern.
Diese Auseinandersetzung wird die Kommunalwahlen im Oktober kommenden Jahres bestimmen. Die gute Arbeit der PT in zahlreichen Städten und Gemeinden stimmt uns optimistisch. Wir glauben an ihre Wiederwahl in den meisten, wenn nicht in allen Orten. Die Rechten werden vor allem die Landesregierung angreifen und ihr vorwerfen, dass sie nichts zuwege gebracht, den Zufluss von Bundesmitteln verhindert hat usw.
Tatsächlich kann die Landsregierung angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament wenig tun. Wir glauben aber fest daran, dass die Bevölkerung das Manöver durchschaut und die Erfahrungen mit den PT-Stadtverwaltungen und mit der neuen Landesregierung zu schätzen weiß: mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Respekt vor der arbeitenden Bevölkerung.

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