Sozialistische Zeitung |
Dienstag, 30.November
Ich habe mich immer geärgert über die Unfähigkeit von
Amerikanern, gehörig Krach zu schlagen. Bis heute. Früh morgens gingen tausende nach Downtown-Seattle und hielten die
Delegierten der Welthandelsorganisation davon ab, sich zu treffen. Eine Gruppe von schwarz vermummten Anarchisten skandierte einen Slogan
von enormer ideologischer Kraft und Klarheit: "Capitalism? No thanks! We will burn your fucking banks!" Im Verlauf des Tages
setzten die Cops - zurückhaltender als die meisten ihrer Kollegen und im Vergleich zum New York Police Department geradezu Softies -
Pfeffergas und Gummigeschosse ein. Downtown blieb weitgehend dicht - und die schwarzen Hubschrauber oben drehten weiter ihre Runden.
Am späten Nachmittag erklärte der Bürgermeister eine
Ausgangssperre und der Gouverneur aktivierte die Nationalgarde. Die Strassen wurden geräumt, aber die Aktivisten sollen zu diesem
Zeitpunkt längst zu Hause gewesen sein und sich auf den nächsten Tag vorbereitet haben. Da Bill Clinton morgen auf der Tagung
sprechen soll, ist die offizielle Seite fest entschlossen, den Weg freizuräumen. Wir werden sehen.
Neben dem Ausnahmerecht war einer der Tageshöhepunkte eine
massive Arbeiterkundgebung mit Demonstration, beide vom US-amerikanischen Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO gesponsert. Die
Veränderung der Rhetorik bei den US-Gewerkschaften in den letzten fünf Jahren - einfach unglaublich! Die nationalistischen
Parolen sind weitgehend - aber noch nicht ganz - verschwunden und wurden durch eine Rhetorik internationaler Arbeitersolidarität
ersetzt.
Gewerkschafter aus der ganzen Welt sprachen, einige von ihnen ziemlich
hitzig. Ein mexikanischer Gewerkschafter lobte die Zapatisten, und ein südafrikanischer Minenarbeiter nannte sogar Marx beim Namen.
Er drängte die Arbeiter der Welt, sich zu vereinen. Und die Menge applaudierte laut. Doch George Becker, Präsident der United
Steelworkers of America, klagte lauthals, dass "Importe über unsere Grenzen geschwappt kommen". Und einige Teamsters
entfalteten ein Transparent mit der Forderung, die Grenze zur Abschreckung mexikanischer Lastwagen zu schließen. Aber Beleidigungen
wie diese gab es erfreulich wenige.
Ein paar der US-amerikanischen Sprecher klangen richtig militant. Der
Präsident der International Longshore and Warehouse Union verkündete stolz, dass seine Leute die Westküstenhäfen
von Seattle bis hinunter nach San Pedro dichtgemacht hätten. Er erinnerte an die Geschichte seiner Gewerkschaft: von der
Unterstützung für salvadorenische Arbeiter und die Docker im britischen Liverpool. Gerald McEntee, Präsident der
American Federation of State, County, and Municipal Employees drängte, "das System zu benennen", das uns
unterdrücke und "alles zur Ware" mache, "vom Wald in Brasilien bis zur Bücherei in New Jersey" - das
System des "corporate capitalism". Jay Masur, Präsident der Kleidung- und Textilgewerkschaft UNITE!, rief
Umweltschützer und Arbeiter in der ganzen Welt zur Einheit auf.
Zusammengehörigkeit war das Thema der Arbeiterdemonstration,
nicht nur Solidarität zwischen Arbeitern, sondern der organisierten Arbeiter mit allen anderen. Es gab nie dagewesene Konstellationen, z.
B. von Teamster-Präsident James Hoffa, der auf derselben Bühne stand wie studentische Anti-Sweatshop-Aktivisten. Es gab Leute
der Basisgruppe Earth First, die zusammen mit Mitgliedern des konservativen Sierra-Clubs liefen. Eine Kette der barbrüstigen Lesbian
Avengers bahnte sich den Weg durch eine Masse von Maschinenschlossern.
Trotz der Ausgangssperre fand eine Debatte in der Town Hall statt. Auf der
Pro-WTO-Seite befanden sich der Procter&Gamble-Lobbyist Scott Miller (er ist auch Chef der US Alliance for Trade Expansion, einer
Exportlobby), der stellvertretende Handelsminister David Aaron und der Wirtschaftswissenschaftler Jagidsh Bhagwati von der Columbia-
Universität. Gegen die WTO waren John Cavanagh vom Institute for Policy Studies, die indische Physikerin Vandana Shiva und der
Verbraucheranwalt und ehemalige grüne Präsidentschaftskandidat Ralph Nader.
Miller betete auf ziemlich niedrigem Niveau Unternehmensprogaganda
herunter. Aaron verbreitete die neue politische Linie der Regierung, derzufolge an den Protesten schon etwas dran sei, und dass Handel
"clean, green, and fair" sein solle.
Bhagwati war der präziseste und klügste von allen: wie die
meisten Wirtschaftswissenschaftler ein Anhänger des Freihandels, aber auch ein Kritiker der freien Bewegung von spekulativem Kapital
und ein Fürsprecher für größere soziale Absicherungen. Er argumentierte, hinter den Klagen über
ausländische Sweatshops stecke ein großes Maß Heuchelei, wenn es sie en masse mitten in den USA gibt, ebenso wie
Migrationsarbeiter, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten.
Die Nein-Seite genoss die Sympathie des Publikums. Aaron und Miller
wurden mehrmals ausgepfiffen. Doch auch die WTO-Kritiker enthüllten ihre Schwächen. Gefragt, was passieren würde,
wenn wir big business "ausschalten" würden, sagte Cavanagh richtigerweise, dass Großfirmen relativ wenig Menschen
anstellen. Aber diese Menschen, behauptete er, könnten leicht von kleinen Firmen wieder angestellt werden. Nicht enthüllen
mochte Cavanagh, woher wir dann unsere Computer, Telefone und Dieselmotoren bekommen würden.
Aaron fragte Nader scharf, wie ein Verbraucheranwalt die Verringerung
von Importen empfehlen könne, da dies geringere Auswahlmöglichkeiten und heimische Monopole zur Folge hätte. Nader,
der zu ernsthafter ökonomischer Analyse offenbar nicht fähig ist, behauptete, dass die Reduktion von Ölimporten zugunsten
von Energieeigenversorgung eine gute Sache wäre. Als lägen die Vorteile von Selbstversorgung auf der Hand.
Shiva machte die WTO zurecht als Agentur des Imperialismus nieder, aber
drängte auf "die Rückkehr zur nationalen Entscheidungsfindung, die wir kontrollieren". Offenbar ist ihr weder
aufgefallen, dass der Nationalstaat selbst ein imperiales Erbe ist. Noch enthüllte sie, wann dieses "wir" jemals die Regierung
stellte. Von Indien sprach sie als Einheit, als wäre dieses Land nicht aufgespalten in Klassen, Ethnien und Regionen. Ebenso behauptete
sie, Handel sei einst durch ethnische Schranken bestimmt gewesen, mit der WTO aber sei die Profitmaximierung eingekehrt. Eine
merkwürdige Version von kapitalistischer Geschichte.
Mittwoch, 1.Dezember
Seattle befindet sich im Belagerungszustand. Cops, in angsterregendes
Schwarz gekleidete Paramilitärs und Soldaten der Nationalgarde, die mit nichts anderem als Knüppeln bewaffnet sind, stehen an
jeder Kreuzung. Den Tag über gab es vereinzelte Demonstrationen, aber nichts kam an die von gestern heran. Die WTO-Delegierten
konnten sich treffen, aber niemand achtet anscheinend auf das offizielle Geschehen. Der Gipfel erscheint als Fußnote gegenüber
dem eigentlichen Ereignis, der Mobilisierung.
Aber nicht alles ist gänzlich ruhig. Stahlarbeiter und
Umweltschützer veranstalteten eine gemeinsame Tea Party, indem sie massenhaft Stahl (als Symbol von Importen) und
hormonbehandeltes Rind über den Pier ins Meer warfen. Einigen jungen Leuten dauerten die Reden zu lang. In Begleitung einiger
Stahlarbeiter und Teamsters marschierten sie downtown. Um einer Phalanx Cops, die von rechts kam, auszuweichen, drehten sie nach links ab -
ungefähr tausend, unter einem Transparent mit der Aufschrift "Capitalism cant be transformed” - und brachten den Verkehr
zum Erliegen. Ein Panzerwagen mit Cops tauchte auf, die Cops sprangen ab und schossen Tränengas sowie Gummigeschosse ab. Die
Autos waren mittendrin. Die Cops wurden richtig gemein und erschütterten das liberale Image, mit dem sich die Stadt sonst gerne
schmückt.
Ein Kollege sagte heute, eigentlich bestehe die große Story darin,
dass die AFL-CIO es am Dienstag nicht übers Herz gebracht hat, seine Demonstranten zur Unterstützung der jungen Menschen zu
schicken, die die Straßen blockierten. Die Belohnung für dieses Wohlverhalten sei die Audienz gewesen, die Bill Clinton dem Chef
der AFL-CIO, John Sweeney, gewährte.
Für mich dagegen ist die Big Story, dass die AFL-CIO
überhaupt in all ihrer offiziellen Kapazität hier ist und dass viele hochrangige Gewerkschafter auf den Straßen sind.
Stahlarbeiter - vor allem Streikposten von Kaiser Steel - stellten einen großen Anteil bei der oben genannten Demo. Ich sah jemand mit
einer Teamster-Mütze, der "Fuck the corpos" (Scheiß auf die Konzerne) schrie. Das ist wirklich nicht das
Routineverhalten der amerikanischen Arbeiterklasse. Wenn Sweeney seine Leute zu den Straßenblockierern geschickt hätte,
wäre das ein vorrevolutionärer Akt gewesen - ein genüsslicher Gedanke, aber der Realität wohl etwas zu weit voraus.
Trotzdem gibt es sichtbare Risse zwischen Gewerkschaften und Demokratischer Partei. Und die sollten gelobt und erweitert werden.
Die Bewegung selbst sollte als Teil einer weltweiten Mobilisierung
gesehen werden, die mehr und mehr antikapitalistische und weniger bloß antiglobalistische Positionen einnimmt - ein Ergebnis der
weltweiten Demos am 18.Juni gegen den G7-Gipfel und eng verwandt mit der Anti-Weltbank-IWF-Bewegung. Diese Themen der politischen
Ökonomie waren vor weniger als zehn Jahren noch ein Fachgebit von Spezialisten. Jetzt stehen sie im Mittelpunkt von umfangreicher
politischer Mobilisierung. Die Demonstranten sagen heute: "Wir haben gewonnen." Das stimmt. Aber es ist unklar, was langfristig
die Früchte dieses Sieges sein werden. Im ersten Moment schmecken sie jedenfalls sehr süss.
Doug Henwood