Sozialistische Zeitung |
Immer noch fehlen für fast 7 Millionen (registrierte und nicht registrierte) Erwerbslose bezahlte
Arbeitsplätze und die Erwerbslosigkeit steigt weiter. Frauen sind im Vergleich zu ihrer Beteiligung am bezahlten Arbeitsmarkt
überproportional von Erwerbslosigkeit betroffen.
Alle Anzeichen sprechen dafür, dass das Volumen an klassischer
Erwerbsarbeit in den nächsten Jahren weiter dramatisch sinken wird. Gründe dafür sind insbesondere erhebliche
Rationalisierungseffekte durch Informations- und Kommunikationstechnologien und der shareholder value-Effekt, der dazu führt, dass
Aktiengesellschaften im Interesse kurzfristiger Profitrealisierung statt in Arbeit zu investieren, sich auf den Kapitalmärkten
betätigen.
Zudem hat die klassische Vollbeschäftigung bei gleichzeitiger
Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt bis heute nur ein geschlechtsspezifisch gebrochenes Recht auf Existenzsicherung zur Folge
weil der größte Teil der Arbeiten nicht mit einem Einkommensanspruch verbunden ist.
Für viele Betroffene und besonders für viele Frauen bedeutet
die gegenwärtige Arbeitsmarktsituation Armut und ein menschenunwürdiges Leben. Der Zugang zu ausreichend bezahlter Arbeit
wird besonders für Frauen immer schwieriger. In Zukunft werden sie vor allem in prekären
Beschäftigungsverhältnissen zu finden sein, für die kennzeichnend ist, dass diejenigen (mehrheitlich Frauen), die sie
ausüben, in der Regel nicht ohne Abhängigkeit von anderen Personen (meistens der Ehemann) oder vom Staat leben können.
Das gilt auch für viele der "neuen Selbständigen". Davon ist jedoch bei den zahlreichen Motivierungsversuchen
für "selbständige" ArbeitnehmerInnen keine Rede. Im Gegenteil: Europaweit wird von Politikern die
"Existenzgründung" als Allheilmittel gegen Erwerbslosigkeit gepriesen.
Was ist Existenzgründung?
Es geht in diesem Beitrag vor allem um die kleinen Selbständigen,
die einen Betrieb aufmachen. Sie können sich den Gesetzen des Marktes nicht entziehen. Für sie gilt: Wer als Einzelner nicht fit ist,
wird vom eisigen Wind der Konkurrenzgesellschaft hinweggefegt.
Ich nenne diese ExistenzgründerInnen bewusst die "neuen
Selbständigen", weil sie nicht in klassischen Unternehmen als dauerhaft angelegte Institution mit großem
Bürogebäude für Hunderte von festangestellten Kopf- und Handarbeitern agieren.
Ich vernachlässige zunächst die selbständigen
TelearbeitnehmerInnen. Das sind diejenigen, die dank moderner Kommunkationstechniken Büroarbeiten von zu Hause aus erledigen und
auf eigenes Risiko arbeiten. Mittlerweile sollen es 0,4% aller Beschäftigten sein. ExpertInnen schätzen, dass ihre Zahl bis zur
Jahrtausendwende auf bis zu 2,5 Millionen Personen zulegen könnte. Viele sind im Bereich der geringfügigen Beschäftigung
angesiedelt.
Nicht zuletzt aufgrund der Motivierungskampagnen ist in der Zeit von 1979
bis 1990 in 12 von 20 OECD-Ländern die Zahl der Selbständigen schneller gestiegen, als die Zahl der Erwerbspersonen
außerhalb der Landwirtschaft. Im Jahre 1995 betrug die Zahl der selbständigen Frauen in Relation zu den Beschäftigten
europaweit 9,4%.
Auch in der BRD gründen seit Mitte der 80er Jahre immer mehr
Frauen im Westen und seit Beginn der 90er Jahre auch im Osten ihren eigenen Betrieb. Trotz aller Schwierigkeiten hat sich der Trend zur
Selbständigkeit in den letzten Jahren ständig verstärkt.
Jedes dritte Unternehmen wird heute bundesweit durch eine Frau
gegründet. Das ist eine enorme Steigerung, denn 1975 war es in der BRD-West noch jedes 10.Unternehmen.
Welche Motive?
Freilich können wir auch bei den Existenzgründerinnen nicht
von den Frauen sprechen. Es macht schon einen Unterschied, in welcher Branche Frauen sich selbständig machen. Die meisten eint
dennoch das Motto: Lieber Chefin als arbeitslos. Sie gründen selbst Betriebe und Dienstleistungsunternehmen, weil sie auf dem
Arbeitsmarkt keinen Arbeitsplatz finden können, der ihren Ansprüchen und Bedürfnissen entspricht.Es ist die Not, die
gründerisch macht. Die Hoffnung auf das große Geld haben die meisten Frauen von vornherein nicht. Schulden bereiten oft
schlaflose Nächte.
Bei vielen Frauen mischt sich die Kritik an den herrschenden
Lohnarbeitsbedingungen mit der eigenen Aussichtslosigkeit. Andere Frauen machen sich selbständig, weil sie sich nicht mehr in alte
Abhängigkeiten begeben wollen. Dabei rutschen sie nicht selten in neue Abhängigkeiten oder scheitern.
Frauen sind auch an der Gründung von "gemischten
Betrieben" beteiligt. Manche abeer wollen sich selbstbewusst auf die eigene Realität konzentrieren. Sie gründen
Frauenbetriebe. Oft auch, weil sie die Hoffnung haben, dass sie in einem Frauenbetrieb Auseinandersetzungen sparen und eher respektiert
werden, wenn männliche Chefs fehlen.
Viele der "neuen Selbständigen" (Frauen) sind trotz
Arbeit arm. Und das bedeuted meist auch Armut im Alter.
Häufig erfolgt die Betriebsgründung auf ohnehin engen
Märkten. Eine Marktanalyse unterbleibt allzu oft. Zudem haben Frauen meist wenig Eigenkapital, wenig Branchen- und Berufserfahrung
und unzureichendes Fachwissen, vor allem im Bereich der Unternehmensführung und Betriebswirtschaft. Häufig gründen sie
in traditionellen Frauenarbeitsfeldern. Erfahrungen zeigen, dass Frauen auf dem Weg in die Selbständigkeit von Banken schlechter
beraten werden als Männer, was dann häufig zu schlechteren Konditionen führt.
Die Schwerpunkte der Existenzgründung von Frauen liegen heute im
Dienstleistungsbereich (ca. 57% West und Ost) und im Handel (26% West, 37% Ost). Im produzierenden Gewerbe finden wir nur 12% Frauen
im Westen und 6% im Osten. Innerhalb der gewinnträchtigen Branchen dominieren eindeutig die Männer.
Fast zwei Drittel der Frauen gründen Ein-Personen-Betriebe, bei den
Männern ist es knapp die Hälfte. Die oft hervorgehobenen Arbeitsplatzeffekte sind also auch bei Frauenbetrieben gering. Etwa die
Hälfte derjenigen, die Beschäftigte haben, haben ein bis zwei Angestellte. Nur 14% haben mehr als fünf Beschäftigte.
Allerdings bilden die Hälfte der ostdeutschen Frauenbetriebe Lehrlinge aus.
Förderung durch EU und Staat
Besonders Frauen werden durch offizielle Gründungsinitiativen
immer wieder aufgefordert, "selbständig" zu werden, weil sie unter den "Selbständigen" immer noch
unterrepräsentiert sind.
Auch die Bundesanstalt für Arbeit rechnet die Förderung von
Existenzgründungen zur aktiven Arbeitsmarktpolitik. Mit Hilfe eines Überbrückungsgelds werden Erwerbslose
gefördert, die sich selbständig machen wollen. 1996 gaben die Arbeitsämter rund 1% ihres Gesamtetats zur
Unterstützung von Existenzgründungen aus, 1986 lag der Betrag noch unterhalb der Promillegrenze.
Chancen zur Schaffung dauerhafter Existenzgründungen werden in
Veränderungen des Arbeitsmarkts gesehen, in den sich ausbreitenden Branchen wie komplexen Dienstleistungen aber auch in den
Strukturveränderungen hin zu schlankeren Organisationen. Wieviele Arbeitsplätze dort geschaffen werden und wieviele Frauen
davon profitieren werden, ist ungewiss.
Immer mehr Menschen werden zu Klein- und KleinstunternehmerInnen. Sie
kopieren meist genau die Unernehmensstrategien, die zu ihrer eigenen Ausgrenzung geführt haben. Oft stellen sie nach kurzer Zeit fest:
Die große Freiheit ist es nicht geworden. Die Selbständigkeit hat sich nicht selten als Scheinselbständigkeit entpuppt. Viele
leben ohne Sozialversicherung am Existenzminimum und jedes vierte neugegründete Unternehmen steht nach sieben Jahren vor dem
Bankrott.
Jede dritte Frau hat im zweiten Jahr ihrer Selbständigkeit noch nicht
ihr ehemaliges Beschäftigtengehalt erreicht. Viele "selbständige" Frauen sind daher nicht selbständig sondern
abhängig vom (Ehe-)Mann oder vom Staat. Sie sind arm, denn sie haben keine existenzsichernden Einkommen. Fast ein Viertel der
Frauen (bei den Männern sind es 3,5% im Westen und 11,1% im Osten) müssen mit einem monatlichen Nettoeinkommen von unter
1000 DM auskommen, die Hälfte (Ost 53%, West 41%) kann sich weniger als 1800 DM auszahlen. Im Vergleich dazu 11%
Westmänner und 35,8% Ostmänner. Die hierarchisch zunehmende Männerdominanz greift vor allem im Westen: Nur ein
Drittel der Westfrauen hat mehr als 3000 DM, gegenüber drei Viertel der Männer. Viele Existenzgründerinnen und ihre
Arbeitnehmerinnen arbeiten faktisch in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen. Auch im Alter werden sie zu den armen
Frauen mit niedrigen Renten gehören.
Sieht man sich die geleisteten Arbeitsstunden an, so wird deutlich, dass die
- gegenüber abhängig Beschäftigten - bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine Illusion ist: West-Frauen arbeiten
durchschnittlich 39,5 Stunden und Ost-Frauen 48,6 Stunden wöchentlich. Dennoch hat fast drei Viertel der jungen Ostunternehmerinnen
Kinder im Vorschul- oder Schulalter. Wochenarbeitszeiten von über 60 Stunden sind keine Seltenheit. Die bezahlte Arbeit
verschränkt sich oft mit der unbezahlten. Urlaub entfällt nicht selten. Nachtarbeit ist an der Tagesordnung. Kinderarbeit wird sich
(wieder) ausbreiten. Die weitaus meisten Frauen erledigen zusätzlich Haus- und Sorgearbeit, meist am Wochenende. Obwohl es Frauen
auch als "Selbständige" schwerer haben, scheitern Frauenbetriebe seltener als Männerbetriebe. Die große Zahl
der erfolgreichen Unternehmerinnen zeigt aber auch, dass viele Risiken kalkulierbar und überwindbar sind.
Nicht verschwiegen werden sollte, dass sich die Selbständigkeit
gerade für Frauen oft als Scheinselbständigkeit entpuppt.
Die Grenzen zwischen "Arbeitnehmerin" und
"selbständiger Unternehmerin" scheinen in Auflösung. Neben neuen Beschäftigungschancen entstehen neue soziale
Risiken. Für die Zukunft erscheint eine Unterscheidung zwischen UnternehmerIn, neuer Selbständigkeit und
Scheinselbständigkeit sinnvoll. Scheinselbständigkeit ist Bestandteil der Ausdifferenzierung und der Ausbeutung von Arbeitskraft.
Die Bundesregierung hat unlängst ein Gesetz zur Bekämpfung
der Scheinselbständigkeit erlassen. Scheinselbständigkeit soll bekämpft werden. Scheinselbständig ist, wer keine
eigenen sozialversicherungspflichtigen ArbeitnehmerInnen beschäftigt, zu mindestens fünf Sechstel für einen Auftraggeber
tätig ist, die typische Arbeit eines abhängig Beschäftigten verrichtet und nicht als UnternehmerIn am Markt auftritt.
Scheinselbständig ist auch, wer vorher abhängig Beschäftige(r) war und nun dieselben Arbeiten wie bisher verrichtet. Wer
zwei der vier Kriterien erfüllt, gilt als scheinselbständig. Verstärkt betrachtet wird künftig auch die
Beschäftigung von ArbeitnehmerInnen eines Betriebes, der mit Selbständigen zusammenarbeitet: Wird ein Selbständiger
für die gleiche Arbeit eingesetzt wie ArbeitnehmerInnen, so ist das ein klares Indiz für Scheinselbständigkeit. Die
Bundesregierung hat allerdings signalisiert, dass das Gesetz noch einmal korrigiert werden soll.
Herausforderung für Gewerkschaften
Für die Gewerkschaften bedeutet die "neue
Selbständigkeit" eine Herausforderung, auf die sie nur unzureichend vorbereitet sind. Durch
"Scheinselbständigkeit" werden nicht zuletzt tarifvertragliche Regelungen umgangen, Festangestellte werden gegen
Freiberufliche ausgespielt. Die Fragen des sozialversicherungsrechtlichen und arbeitsrechtlichen Handlungsbedarfs werden die
Gewerkschaften ebenso beschäftigen müssen, wie die Chancen für eine neue Kultur der "Selbständigen"
oder neue Formen von Genossenschaften und "Alternativbetrieben". Für die Gewerkschaften ergibt sich für die Zukunft
die Notwendigkeit, sich dem ungeheuer weiten Feld der Arbeit als Ganzem zuzuwenden.
Frauen wollen heute aus vielerlei Gründen ihre Existenz aus ihrer
eigenen Arbeit sichern. Dies ist besonders in Ost-Deutschland keine Frage. Um dem Skandalon der Ausgrenzung von sieben Millionen
Erwerbslosen entgegenzuwirken, reicht die Förderung von neuen Existenzgründungen nicht aus.
Es genügt nicht, den vorhandenen schimmligen Kuchen immer wieder
neu zu verteilen. Wir werden einen anderen Kuchen backen müssen. Wahrscheinlich werden wir die ganze Bäckerei umkrempeln
müssen.
Die Notwendigkeit einer anderen Verteilung aller jetzt bezahlten und
unbezahlten Arbeiten darf angesichts von Massenerwerbslosigkeit und geschlechterhierarchischer Arbeitsteilung nicht im Gründerrausch
verloren gehen.
Wünschenswert wäre, dass sich Menschen zu
Betriebsgründungen zusammenschließen, weil sie gemeinsam mehr und Besseres erreichen können als alleine. Verschiedene
bereits bestehende Projekte beweisen die Möglichkeit und Nützlichkeit des Zusammenwirkens solidarischer Individuen in (oft)
ganz neuen Organisationsformen.
Freilich sind auch diese Projekte meist weder ein geeignetes Mittel gegen
die Massenerwerbslosigkeit, noch können sie die neoliberale Wirtschaftsordnung grundsätzlich in Frage stellen. An ihrer Existenz
kann dennoch beispielhaft aufgezeigt werden, dass Möglichkeiten einer anderen Lebensarbeitswelt nicht nur theoretisch sondern auch
praktisch möglich sind. Die Frage nach Varianten zur neoliberalen wirtschaftlichen Entwicklung ist jedenfalls nicht gegenstandslos
geworden.
Gisela Notz
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