| Sozialistische Zeitung |
Der Streik ist an einen kritischen Punkt gelangt", ruft Mario Benitz mit lauter Stimme in den
überfüllten Saal. "Wir müssen die Universitätsleitung jetzt zwingen, endlich ein Angebot auf den Tisch zu
legen." Die gut 700 Delegierten klatschen dem hageren Redner mit der Nickelbrille zu. Es ist 5 Uhr morgens. Außerhalb des
Versammlungssaals reibt sich Mexiko-Stadt den Schlaf aus den Augen. Seit neun Stunden diskutiert und disputiert der Oberste Streikrat in einer
seiner wöchentlichen endlosen Mammutsitzungen.
Seit über sieben Monate streiken die gut 250.000 Studierenden der
Nationalen Universität (UNAM). Auf dem Campus läuft nichts mehr. Die Institute der größten Universität
Lateinamerikas sind besetzt, ihre Eingangstüren mit in einander verkeilten Tischen, Stühlen und Brettern verrammelt. Schwarz-rote
Streikfahnen und Transparente hängen aus den Fenstern. Überall im Universitätsviertel kleben Plakate, die die nächste
Demonstration ankündigen.
"Wir legen Rektor de la Fuente unsere sechs zentralen Forderungen
vor und verlangen eine konkrete Antwort. Falls er die nicht gibt, treten wir dem Idioten in seinen fetten Arsch", schließt der Redner
seinen Beitrag. Beifall. Sprache und Umgangsformen der Streikenden sind grob und respektlos. Nicht nur gegenüber ihren Gegnern,
sondern auch untereinander.
Im Streik ist die Wut einer verlorenen Generation ausgebrochen, die nichts
anderes kennt als die Verschlechterung ihrer Lebensperspektiven. Sie ist aufgewachsen in Mitten von wachsender Armut, grassierender Gewalt
und dem täglichen Überlebenskampf in der 22-Millionen-Einwohner-Metropole. Seit am Beginn der 80er Jahre die neoliberale
Politik durchgesetzt wurde, hat sie nur Angriffe auf ihre Chancen und Möglichkeiten kennengelernt.
Viele sind Kinder der ruinierten verarmten Mittelschicht, die sich seit der
Rezession von 1995 im existenzvernichtenden Strudel der Verschuldung befindet. In Mexiko sind seit 1982 die durchschnittlichen
Reallöhne um über 60% gefallen und es ist keine Ende der Verarmung abzusehen. Die Generation dieser Jugendlichen wird
niemals den Lebensstandard ihrer Eltern erreichen.
Die Diskussion des Obersten Streikrats eskaliert im Laufe der Nacht immer
wieder zur Prügelei. Delegierte von Instituten, die ein Abrücken von der Konfrontationslinie fordern, werden aus dem Saal
geschmissen. Bullige Kraftsportler in Baseballjacken sorgen dafür, dass sie draußen bleiben. Die meisten Delegierten sind kaum
älter als 20 Jahre.
Viele scheinen dem MTV-Video-Clip einer Westcoast-Rapperband
entsprungen zu sein. Sie tragen Basecaps oder dicke Wollmützen, Kapuzenpullis, schlapprige weite Jeans und riesige Turnschuhe. Auf
vielen T-Shirts prangt Che Guevara. Mit allen nur denkbaren Flüchen und Kraftausdrücken schreien sie immer wieder aufeinander
ein und finden dann doch einen Kompromiss. Gejohle und Gelächter wechseln sich ab.
Im Widerspruch zur streckenweise chaotischen Diskussion steht die eiserne
Dsiziplin. So gut wie alle bleiben - wie jede Woche - bis zum Ende der 15-stündigen Versammlung um 11 Uhr morgens. Kaum ein
Delegierter hat während der Nacht seinen Platz verlassen. Manche nicken ein, wachen aber immer zu den entscheidenden Abstimmungen
wieder auf. Zwischendurch wird nur eine kurze Pause eingelegt. Gegen 3 Uhr Nachts strömen die Jugendlichen in den Hof vor dem
Versammlungssaal, um während lautstarker Diskussionen Reis mit Bohnen zu essen, die von solidarischen Eltern in riesigen
Töpfen gekocht wurden. "Die längste Versammlung dauerte 36 Stunden", lacht Memo, einer der Delegierten.
"Aber heute müssen wir schneller fertig sein, weil es tagsüber viel Arbeit gibt. Die Verhandlungskommission muss sich
vorbereiten."
Nach dem Rücktritt des bisherigen Rektors und der Einsetzung eines
neuen durch Präsident Ernesto Zedillo von der seit 70 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) sind
Verhandlungen anberaumt worden. Die Streikenden kämpfen gegen Studiengebühren und Zulassungsbeschränkungen. Sie
wollen die Demokratisierung der Universität. Die Regierung dagegen möchte die Erhöhung der bisher niedrigen
Gebühren durchsetzen und die UNAM auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zuschneiden.
Viele Streikenden glauben, dass die bisher staatliche Universität
letztlich privatisiert werden soll, wie so viele andere Einrichtungen und Unternehmen in Mexiko. "Wir kämpfen um die Chancen
unserer Generation und die der folgenden, eine kostenlose Ausbildung zu erhalten", erklärt Memo. Er ist Anfang 20 und knutscht
während der Versammlung mit seiner Freundin, wenn die beiden nicht gerade hitzige Rededuelle davon abhalten.
Der Streik an der UNAM ist seit dem Frühjahr der
schlagzeilenträchtigste soziale Konflikt in Mexiko. Die Zeitungen und Fernsehnachrichten strotzen vor Horrornachrichten über die
"gewalttätigen Streikenden", die nichts anderes im Sinn hätten, als Drogen zu konsumieren und mit der Guerilla
zusammenzuarbeiten. Die Bewegung der Jugendlichen ist tatsächlich respektlos und radikal. Viele nennen sich selbst "Ultras"
und nehmen damit einem Namen an, den ihnen die Presse in disqualifizierender Absicht verliehen hat. "Ja wir sind ultrageil und
ultraradikal", sagt Memo. "Und der Rest der Welt kann uns am Arsch lecken."
Die Streikbewegung hat sich nicht nur mit der Universitätsleitung und
der Regierung angelegt, sondern auch mit kritischen Intellektuellen und der PRD (Partei der Demokratischen Revolution), die in der Hauptstadt
regiert.
Während bei jeder Studentenbewegung der letzten Jahre in Mexiko
schnell Vergleiche mit 1968 angestellt wurden, bleibt dies jetzt aus. Viele linke Intellektuelle aus der 68er-Generation distanzieren sich von
den Streikenden, weil sie in ihnen unreife Radikale sehen, die in "Parolen denken, weil ihnen die Bücher fehlen", wie
Fabrizio Mejía in der Zeitung La Jornada schreibt. Sie weisen jede Verbindung von 1968 und 1999 weit von sich. Bei vielen
mittlerweile etablierten 68ern mag dabei wohl auch eine Rolle spielen, dass sich ihre Generation mit dem Aufstieg der PRD zur
Regierungspartei in Mexiko-Stadt recht bequem einrichten konnte. Jetzt fürchten sie eine politische Destabilisierung mehr als die bisher
verhasste PRI.
Dabei wären Vergleiche zwischen damals und heute angebrachter
denn je. Was die aktuelle Bewegung mit 1968 gemeinsam hat, ist, dass sie neue Formen der Politik schafft. Die Streikenden misstrauen allen,
sogar sich selbst, vor allem aber politischen Parteien und etablierten Organisationen. Überall wittern sie "Korruption" und
"Verrat". Nichts fürchten sie so sehr wie die Bürokratisierung ihrer Bewegung und die Herausbildung von
Führungspersönlichkeiten. Deshalb muss jede Entscheidung in langen Plenardiskussionen erstritten werden.
Jedes Institut führt Versammlungen durch, die die Entscheidungen des
Obersten Streikrats mit seinen etwa 700 Delegierten kontrolliert. Dabei überkreuzen sich basisdemokratische Prinzipientreue mit einem
moralischen Radikalismus. Minderheiten wird oft nicht mit politischen Argumenten begegnet sondern "Feigheit" oder
"Schwäche" vorgeworfen. Dafür gibt es in dieser Bewegung aber keinen Platz, denn das Ziel ist nichts weniger als die
Revolution. Und diese kann nur durch Stärke, Entschlossenheit, Opfer und Märtyrium erreicht werden. "Nietzsche triumphiert
in den Kindern, die sich als Erben von Marx sehen", charakterisiert Mejía die Streikenden ungerecht, aber nicht ganz unzutreffend.
Auf einem riesigen Transparant im Versammlungssaal stehen die
Jahreszahlen 1968, 1971, 1994 und 1999 neben den Bildern von Subcomandante Marcos von der EZLN und Che Guevara. Jede Jahreszahl steht
für Kampf und Opfer. 1968 sind in Mexiko über 400 Studierende bei einer Demonstration vom Militär erschossen worden.
Das Massaker von Tlatelolco ist bis heute ein unbewältigtes Trauma der mexikanischen Gesellschaft. Auch 1971 sind dutzende
Studierende bei einer Protestaktion erschossen worden. 1994 begann der zapatistische Aufstand in Chiapas, der bisher mehrere hundert Opfer
gekostet hat. Und 1999?
Bisher waren die Übergriffe auf die Studierenden begrenzt. Ein
Mitglied der Obersten Streikrats wurde - vermutlich vom militärischen Geheimdienst - entführt, eine Streikende von Polizisten
vergewaltigt. Bei verschiedenen Demonstrationen ging die Polizei teilweise brutal gegen die Jugendlichen vor - aber noch kam es nicht zur
befürchteten großen Konfrontation.
Aber die Bewegung scheint sich darauf einzurichten. "Wir sind uns
des Risikos voll bewusst", sagt Memo. "Wenn ich auf den Demos den Bullen gegenüberstehe, empfinde ich keine Angst,
sondern Wut und Hass", fügt er hinzu. Das klingt zwar nicht wirklich überzeugend, trifft aber die Stimmung. Als vor drei
Wochen Politiker und Medien davor warnten, dass es bei einer geplanten Demonstration zu einem aggressiven Polizeieinsatz kommen
könnte, kamen mit 30.000 Streikenden mehr Teilnehmer als sonst üblich. Der bunte und laute Protestzug zog los, bis seine Spitze
sich Kopf an Kopf mit 2000 schwerbewaffneten Polizisten einer für ihre Brutalität berüchtigten Einheit
gegenüberstand, die eine Straße blockierte. Nach zwei Stunden Verhandlungen, konnte die Demonstration dann schließlich
passieren.
Viele der Streikenden leben in den besetzten Instituten. Hinter den
Barrikaden haben sie es sich gemütlich eingerichtet. "Wir haben hier alles", grinst Memo. "Ein großes Haus, eine
Küche, sogar einen riesigen Garten und ein Schwimmbad." Er meint dabei die Grünflächen zwischen den Instituten und
das universitätseigene Freibad. In ehemaligen Seminarräumen liegen jetzt Schlafsäcke und Matrazen. An den Türen der
Wohngemeinschaften kleben Schilder mit ihren Namen: "Brigade Roter Oktober" oder "Aktionsgruppe Bart Simpson".
"Besser werde ich niemals leben", sagt Memo.
Die Streikenden haben keine Illusionen. Sie leben in einer Realität,
die von Armut und Gewalt geprägt ist. Sie sind gefangen von der beunruhigenden Gewissheit, dass die Zukunft keine Besserung bringen
wird, sondern nur mehr Elend und Zerfall. Die Aussicht auf den Erfolg der Revolution, die ihre Vorgänger 1968 angetrieben hatte, haben
sie längst aufgegeben. Und trotzdem begreifen sie sich als Revolutionäre. Je dicker das Kaliber desto besser.
"Ich finde die FARC in Kolumbien gut. Ihr hattet in Deutschland doch
auch mal eine Rote Armee, was ist aus denen eigentlich geworden", fragt Memo. Doch hinter der Maske des Radikalismus, hat es den
Anschein, als ginge es dieser Generation mehr darum, zu zeigen, dass sie existiert. Und dass sie sich nicht mit dem Urteil auf Chancenlosigkeit
abfinden will, das der Neoliberalismus über sie gefällt hat.
Die Verhandlungen zwischen Streikenden und Universitätsleitung
haben nach sieben Monaten Konfrontation begonnen. "Bis unsere Fordungen erfüllt sind, wird der Streik nicht aufgehoben",
heißt es in einer Resolution, die der Oberste Streikrat in der Nacht beschließt. Wie lange das noch dauern kann? "Vielleicht
nächste Woche, vielleicht nächstes Jahr", sagt Memo. "Wir ziehen diese Sache durch."
Boris Kanzleiter
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