Sozialistische Zeitung |
Die dritte Ministerialkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle ist erfolglos beendet worden:
keine Beschlüsse, keine Kompromisse, keine genauen Themenvorgaben für die Folgekonferenzen und dazu ein Imageverlust, weil
die hohen Herren zu ihrer Zusammenkunft erst durch das Schlachtgetümmel von massiven Gegendemonstrationen und
Polizeinotstandsmaßnahmen stolpern mussten. Nicht schlecht, die erste Adventswoche, oder doch?
Die Zeitschrift Jungle World hebt in ihrer Ausgabe zum Konferenzbeginn in
Seattle gleich zwei warnende Zeigefinger: Zunächst analysiert Alain Kessi die sog. "Retorsionsanfälligkeit" des
Protests gegen die WTO. Insbesondere die "trotzkistischen altlinken TheoretikerInnen", die "den Sozialstaat
verteidigen" wären anfällig, sich ihren Protest von rechten Nationalisten wegschnappen zu lassen. Rechts und Links
wären in ihrer Kritik an der WTO vereinigt und nur wenigen gelänge es, sich aus dieser feindlichen Übernahme zu befreien.
Danach verteidigt Daniel Becker, Stammautor zu globalen Wirtschaftsfragen, die Institution WTO als solche. Eine WTO wäre besser als
keine. Anderfalls kontrollierten die stärksten Mitspieler auf dem Weltmarkt alles, würden die armen Sektoren noch viel mehr
leiden.
"Eine Welthandelspolitik zu verhindern, in der allein die
großen Wirtschaftsmächte die Regeln bestimmen, ist eine der Aufgaben der WTO." Und weiter: "Die Definitionsmacht
für eine Weltordnungspolitik, wie sie vielen (rechten und linken) Globalisierungsgegnern vorschwebt, würde aus dem
Weißen Haus, dem Bundeskanzleramt oder der DGB-Zentrale hinein in den Konferenzsaal einer multilateralen Organisation verlagert, in
der mehr als zwei Drittel aller Regierungen vertreten sind … Ein Kompromiss bei der WTO über die neuen ‚neuen Themen in der
Welthandelspolitik wäre besser als die wahrscheinliche Alternative: das Scheitern." Und schließlich: "Ein
Kompromiss der WTO bei den Umwelt- und Sozialstandards könnte beides verhindern: Den Marktradikalismus pur und auch eine
Weltordnungspolitik nach dem Gutdünken der größten Handelsmächte."
Nun wissen wir aus den Lehrbüchern der Retorsionsforschung, dass
zwei warnende Zeigefinger einer zuviel ist. Hier soll nicht mehr aufgeklärt, gemahnt, und dennoch ermutigt, sondern der Widerstand
gegen die WTO soll zumindest verbal gestoppt und als komplett fehlorientiert entlarvt werden: schön blöd, wer nach Seattle
fährt.
Ein Blick in die großen, bürgerlichen Medien genügt, um
festzustellen, wie schnell solch eine Schrittfolge aus dem Jungle der Rebellion direkt in den Mainstream führt, jeder Humboldt trifft mal
auf seinen Orinoco: Von FAZ und Handelsblatt bis zu den liberalen Blättern aus München und Frankfurt gab es keine warnenden
Finger, aber väterliches Kopfstreicheln. Die lieben Protestler hätten ja so recht mit ihren Anliegen, aber die WTO wäre der
falsche Adressat, sie wäre nützlich und würde das soziale Anliegen doch gerade in ihre Tagesordnung aufnehmen.
Im zweifelhaften Fällen solle man sich für das Richtige
entscheiden, sagte Karl Kraus. Die Vorstellung, die menschliche Zukunft auf der Erde über Marktbeziehungen und Profitwirtschaft regeln
zu wollen ist so falsch, dass selbst die "antinationale Linke" darin nichts Richtiges entdecken dürfte. Ob mit oder ohne
Sozialstandards wird eine solche Ordnung immer von den Reichsten und Mächtigsten dirigiert und die gesamte Ordnung fügt sich
dem Gebot der ökonomischen Zurichtung durch den Weltmarkt. Proteste und Berhinderungsaktionen gegen die Paläste und die
Zeremonien, mit denen diese Ordnung geordnet werden soll, sind also nicht so sehr wegen ihrer Innenwirkung auf diese Zeremonien so richtig
und wichtig, sondern vor allem, weil nur diese radikale Praxis im Widerstand, auf der Straße und wo immer sonst noch eine andere
Zukunft aufzeigt. Und nebenbei: die Auswirkungen nach innen, zum Beispiel "Sozialstandards" auf Grund von Massenprotesten, sind
in der Regel immer noch günstiger ausgefallen, als die in Ruhe gefundenen Verhandlungsergebnisse von "134 Regierungen".
Wer sich nicht in Gefahr begibt, wird darin umkommen. Dass
nationalistische Kräfte sich dem Protest gegen die WTO anschließen, ist so wenig zu verhindern wie der verbale Bezug der Nazis
auf den Sozialismus. Ihr Einfluss ist nur durch eine mächtigere Präsenz der Linken zu ersticken. Auch der große Kritiker der
"modernen Zeiten", Charly Chaplin, beschwerte sich, dass Hitler "ihm sein Bärtchen gestohlen hätte", er
brachte trotzdem den großen Diktator zum Tanzen.
Thies Gleiss
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