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Das Memorandum der Loccumer Initiative knüpft kritisch an dem erstmals vor zwei Jahren
vorgelegten Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung an, entfaltet das empirische Panorama von Armut und Reichtum (letzterer kommt etwas zu kurz) und
betont vor allem die sozialen und psychologischen Folgen der herrschenden Armut (Krankheit, Obdachlosigkeit, soziale Ausgrenzung, Angstklima und
Entsolidarisierung, Entwürdigung und Sozialdarwinismus).
Die Autorinnen und Autoren lassen keinen Zweifel aufkommen, dass die ersten vier rot-grünen
Jahre die Lage nicht nur nicht gebessert, sondern mit ihrer fortgesetzten Umverteilungspolitik von unten nach oben eher noch verschärft haben. Noch immer
herrsche "das Selbstideal dieser kapitalistischen Krisenlösungen, den allseitig verfügbaren Menschen herzustellen" (Oskar Negt), noch immer
werden die Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen verantwortlich gemacht. Die Loccumer fordern dagegen eine aktive Arbeitspolitik und eine soziale
Grundsicherung, die über den Status reiner Fürsorge deutlich hinausgeht: "Nicht um Arbeit um jeden Preis … darf es gehen, sondern um
menschenwürdige und demokratie-kompatible Lebensführung durch freiwillige gewerbliche und gemeinnützige Tätigkeiten auf der Basis
eines staatlich garantierten rechts auf materielle Grundsicherung für alle."
Besticht das Memorandum durch seine Empirie, so liegt die Stärke des gleichzeitig
erschienenen kleinen Bandes von Werner Rügemer2 in seinem theoretischen Zugriff. Schärfer als bei den Loccumern wird hier der strukturelle
Zusammenhang von Reichtum und Armut gefasst. Reich, so Rügemer im Anschluss an den alten Adam Smith, ist weniger, wer ein hohes Einkommen oder viele
Grundstücke besitzt. Reich ist in unserer Gesellschaftsform vielmehr, wer über das Ergebnis anderer Leute Arbeit und damit über eine
ständige Gewinnquelle verfügt.
Arbeitslosigkeit, Bildungsmangel und Familiensituation sind ebenso wenig Ursachen für
Armut und Elend, wie es die Nahrungsmittelknappheit ist, die vermeintlich für den Hunger verantwortlich ist. Die wirklichen Ursachen sind die Imperative der
Marktwirtschaft, ungerechte Verteilung und Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften. Ein emanzipativer Reichtum wäre dagegen, so Rügemer, die
relative Unabhängigkeit von Natur- und Gesellschaftskatastrophen.
Unterscheiden sich die Loccumer und Rügemer in ihrer partiellen Akzentsetzung, so sind sie
sich in den programmatischen Konsequenzen durchaus einig. Es gelte, den Zusammenhang von Leistung und Einkommen völlig zu entkoppeln. Bei den wirklich
Reichen, wie Rügemer mit verve darstellt, ist diese Utopie allerdings schon heute Realität.
Christoph Jünke