SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 21

Armut und Reichtum

Nimmt man das offizielle Kriterium, das dem Armutsbegriff zugrunde liegt, dann leben etwa 8 Millionen Menschen in der Bundesrepublik in Armut. Als arm gilt jener Haushalt, der die Hälfte des durchschnittlich verfügbaren Einkommens besitzt. Da dieser Durchschnitt bei ca. 2700 Euro liegt, gelten all jene Haushalte als arm, die nicht mehr als etwa 1350 Euro monatlich besitzen. Betroffen sind von dieser Armut besonders alleinerziehende Mütter, Kinder und Alte, Migranten und Langzeitarbeitslose sowie Niedrigverdiener (die "working poor"). Jede(r) zehnte ist also arm, Tendenz steigend.

Das Memorandum der Loccumer Initiative knüpft kritisch an dem erstmals vor zwei Jahren vorgelegten Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung an, entfaltet das empirische Panorama von Armut und Reichtum (letzterer kommt etwas zu kurz) und betont vor allem die sozialen und psychologischen Folgen der herrschenden Armut (Krankheit, Obdachlosigkeit, soziale Ausgrenzung, Angstklima und Entsolidarisierung, Entwürdigung und Sozialdarwinismus).
Die Autorinnen und Autoren lassen keinen Zweifel aufkommen, dass die ersten vier rot-grünen Jahre die Lage nicht nur nicht gebessert, sondern mit ihrer fortgesetzten Umverteilungspolitik von unten nach oben eher noch verschärft haben. Noch immer herrsche "das Selbstideal dieser kapitalistischen Krisenlösungen, den allseitig verfügbaren Menschen herzustellen" (Oskar Negt), noch immer werden die Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen verantwortlich gemacht. Die Loccumer fordern dagegen eine aktive Arbeitspolitik und eine soziale Grundsicherung, die über den Status reiner Fürsorge deutlich hinausgeht: "Nicht um Arbeit um jeden Preis … darf es gehen, sondern um menschenwürdige und demokratie-kompatible Lebensführung durch freiwillige gewerbliche und gemeinnützige Tätigkeiten auf der Basis eines staatlich garantierten rechts auf materielle Grundsicherung für alle."
Besticht das Memorandum durch seine Empirie, so liegt die Stärke des gleichzeitig erschienenen kleinen Bandes von Werner Rügemer2 in seinem theoretischen Zugriff. Schärfer als bei den Loccumern wird hier der strukturelle Zusammenhang von Reichtum und Armut gefasst. Reich, so Rügemer im Anschluss an den alten Adam Smith, ist weniger, wer ein hohes Einkommen oder viele Grundstücke besitzt. Reich ist in unserer Gesellschaftsform vielmehr, wer über das Ergebnis anderer Leute Arbeit und damit über eine ständige Gewinnquelle verfügt.
Arbeitslosigkeit, Bildungsmangel und Familiensituation sind ebenso wenig Ursachen für Armut und Elend, wie es die Nahrungsmittelknappheit ist, die vermeintlich für den Hunger verantwortlich ist. Die wirklichen Ursachen sind die Imperative der Marktwirtschaft, ungerechte Verteilung und Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften. Ein emanzipativer Reichtum wäre dagegen, so Rügemer, die relative Unabhängigkeit von Natur- und Gesellschaftskatastrophen.
Unterscheiden sich die Loccumer und Rügemer in ihrer partiellen Akzentsetzung, so sind sie sich in den programmatischen Konsequenzen durchaus einig. Es gelte, den Zusammenhang von Leistung und Einkommen völlig zu entkoppeln. Bei den wirklich Reichen, wie Rügemer mit verve darstellt, ist diese Utopie allerdings schon heute Realität.

Christoph Jünke

1. Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hg.), Armut als Bedrohung. Der soziale Zusammenhalt zerbricht. Ein Memorandum (mit einer Einführung von Oskar Negt), Hannover: Offizin-Verlag 2002, 120 Seiten, 10 Euro.
2. Werner Rügemer, arm und reich, Bielefeld: transcript-Verlag (Bibliothek dialektischer Grundbegriffe) 2002, 50 Seiten, 7,60 Euro.



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